„Das wahre Böse ist das Böse ohne Motiv“


In seinem Roman Die Verdorbenen untersucht Michael Köhlmeier die Schattenseiten der Liebe, der Jugend und der menschlichen Seele anhand der verhängnisvollen Verstrickungen zwischen drei Studierenden. Im Interview spricht der mehrfach preisgekrönte Autor über Schuld und die Natur des Bösen.

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Lieber Herr Köhlmeier, genau wie Ihr Protagonist Johann haben Sie in Marburg studiert. Warum war das der richtige Handlungsort für Ihren Roman „Die Verdorbenen“?

Ich kenne das Milieu der 1970er-Jahre in Marburg. Der Roman hätte vielleicht auch in Tübingen spielen können, aber warum? In Marburg kenne ich mich aus. Es soll nur nicht dazu verleiten, zu glauben, ich sei dieser Johann. Das bin ich nicht.

Was hat Sie dazu bewegt, im Alter von 75 Jahren einen Roman über das Leben als Student zu schreiben? Wie haben Sie es geschafft, sich noch mal in diese Phase hineinzuversetzen?

In der Erinnerung wird alles klarer ... oder auch nicht. Wesentliches trennt sich von Unwesentlichem. Ich denke gern an meine Studienzeit zurück. Erst heute sehe ich, wie gefährdet ich in vieler Hinsicht war. „Süßer Vogel Jugend“ – diese jugendliche Einsamkeit ... das war schön ... berauschend ...

Neben dem Studienort finden sich auch andere Begebenheiten Ihres eigenen Lebens in Johann wieder – warum haben Sie diese autofiktionalen Aspekte in eine so moralisch fragwürdige Figur eingearbeitet?

Ich mag das Wort „autofiktional“ nicht. Es tut, als bezeichne es etwas Neues. Goethe nannte seine Autobiografie im Untertitel „Dichtung und Wahrheit“. So ist es doch immer. Wir Schriftsteller beuten unsere Biografie aus. Wozu erlebt man denn sonst etwas? Ein Alter Ego ist kein autobiografisches Ich. Es ist schön, beim Schreiben zu sehen: Der hätte ich sein können. Konjunktiv! Der Schriftsteller sieht die Welt im Konjunktiv.

Welche Bedeutung haben Johanns Eltern für ihn und seine Entwicklung? 

Wahrscheinlich keine große. Er sagt ja, sein Vater war nie ein Vorbild für ihn. Und seine Mutter hat nicht viel von ihm gehalten. Das aber trifft auf mich nun gar nicht zu. Meine Eltern hatten großen Einfluss auf mich. Sie haben mich immer ermahnt, meinen Jugendwunsch, eigentlich Kindheitswunsch, nämlich Schriftsteller zu werden, nicht aufzugeben. Denk nicht ans Geld, sagten sie, du musst tun, was dich glücklich macht. Irgendwie wirst du es schaffen, nicht zu verhungern. 

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Zwischen Christiane, Tommi und Johann entsteht eine Dreiecksbeziehung, die keinen konventionellen Vorstellungen von Liebe entspricht. Was bringt die drei zusammen? Und was hält sie beieinander?

Sucht. Was ist das Böse? Das Böse ist, wenn man mit etwas nicht aufhören kann, gleich, was es ist. Sucht. Die drei können nicht voneinander lassen.

In Ihrem Roman verarbeiten Sie Fragen von Schuld und Unschuld; im Buch heißt es, Johann sei „verdorben und zugleich unschuldig“. Was steckt hinter dieser Aussage?

Auf dieses Phänomen bin ich erst beim Schreiben aufmerksam geworden. Fürs Menschsein verdorben ist der, der sich nie schuldig gemacht hat. Dieser Gedanke ist wie eine Bombe im Kopf. Wenn ich im Sinn des Christentums denke – was wäre die schlimmste Sünde? Nicht zu sündigen. Dann würde ich zu dem Erlöser am Kreuz sagen: He, dein grässlicher Tod war nicht nötig, jedenfalls nicht für mich. Wo doch das ganze Christentum auf dem Erlösungsgedanken beruht!

Das Böse hat Lust auf sich selbst, darum kommt es nicht selten zweimal und gleich schnell hintereinander.

Aus: Die Verdorbenen

Johann hat bereits als Kind den Wunsch, jemanden zu ermorden. Ist das Böse für Sie etwas, mit dem manche Menschen einfach geboren sind? Was macht einen Menschen „böse“?

Das wahre Böse ist das Böse ohne Motiv. Das ist wirklich schrecklich. Mephisto sagt, er sei ein Teil jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Was ist mit der Kraft, die das Böse will und das Böse schafft? Das Böse um des Bösen willen. Johnny Cash singt davon, einen Mann in Reno zu erschießen, nur um ihn sterben zu sehen. Das ist böse. In jedem Krimi wird nach dem Motiv einer bösen Tat gefragt. Das dient zu unserer Beruhigung. Wir wollen, dass das Gesetz von Ursache und Wirkung gilt. Was aber, wenn nicht? Dann bricht unsere Weltanschauung in sich zusammen. Das ist das wahre Böse.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Köhlmeier!

 

Die Fragen stellte Maria Voßhagen.


Der Autor

Michael Köhlmeier, geboren 1949 in Hard am Bodensee, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk und 2019 mit dem Ferdinand-Berger-Preis. Zuletzt erschien von ihm bei der Büchergilde der Roman Das Philosophenschiff.


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