Am Anfang war das Wort


Hatten Deutsch, Lettisch oder Griechisch eine gemeinsame Vorfahrin? Der Urknall unserer Sprache von Autorin und Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney geht auf Spurensuche. Herausgekommen ist ein faszinierendes Sachbuch über die Anfänge der Menschheit.

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Homers Odyssee und die Bhagavad Gita, Ovids Metamorphosen und die Nibelungen haben eins gemeinsam: Sie alle wurden in Sprachen verfasst, die auf eine Ursprungssprache zurückgehen. Das Proto-Indoeuropäische verbindet die alten Römer und Griechen im Westen und iranische Sprachen und das indische Sanskrit im Osten miteinander. Aus ihm sind unter anderem Deutsch und Englisch, Polnisch und Ukrainisch, Lettisch und das keltische Walisisch in Großbritannien hervorgegangen. Andere Sprachen, wie Hethitisch, Tocharisch und Latein, sind vor langer Zeit aus unserem Sprachgebrauch verschwunden.

Die Definition einer Sprache ist hoffnungslos politisch.

Aus: Der Urknall unserer Sprache

Das Proto-Indoeuropäische entwickelte sich vermutlich vor rund 5 000 Jahren, noch vor der Erfindung der ersten Schrift. Aber wo genau und wie hat es sich verbreitet? Die britische Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney begibt sich in ihrem Buch Der Urknall unserer Sprache auf eine linguistische Zeitreise, um ebendiesen „Urknall“ dieser Sprache zu erforschen. Entstanden ist ein spannender Einblick in die Sprachwissenschaft, die vielen Leser:innen eine völlig neue Welt eröffnen dürfte. Als die ersten Vertreter:innen der Gattung Homo Sapiens vor 300 000 Jahren in Afrika siedelten, besaßen sie bereits die Fähigkeit, Laute zu produzieren und sich mittels Wörtern zu verständigen. Zumindest besagt das eine wissenschaftliche Hypothese; eine andere geht davon aus, dass sich Sprache nicht entwickelt hat, sondern erst vor 80 000 Jahren zufällig – vielleicht als Kinderspiel – in der afrikanischen Wüste erfunden wurde.

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Vor 14 000 Jahren, vermuten Wissenschaftler:innen, sprachen die rund zehn Millionen Menschen, die die Welt bevölkerten, ungefähr 10 000 verschiedene Sprachen. Mit der Einführung von Ackerbau im Neolithikum schwand diese Vielfalt; mit dem Entstehen der ersten Staaten vor 5 000 Jahren gingen weitere von ihnen zugunsten einer Staatssprache verloren. Heute gibt es acht Milliarden Menschen, aber nur noch knapp 7 000 unterschiedliche Sprachen, etliche von ihnen sind vom Aussterben bedroht. Laura Spinney verfolgt in Der Urknall unserer Sprache die Hypothese, dass das Proto-Indoeuropäische entstand, als die ursprünglich in den osteuropäischen Steppen lebenden Jamnaja diese verließen und nach Westen zogen. Möglicherweise waren es weniger als 100 Menschen, die einen bestimmten Dialekt entwickelt hatten, diesen mitnahmen – und so den Grundstein für eine weit verzweigte Sprachfamilie legten.

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Sie stützt sich dabei auf Ergebnisse von Genetik und KI: Aus den Ausdrücken heutiger verwandter Sprachen daughter (Englisch), duhitár (Sanskrit), thugáter (Griechisch) und dukte (Litauisch) können Sprachwissenschaftler:innen aufgrund bekannter Gesetzmäßigkeiten der Lautentwicklung ein proto-indoeuropäisches *dughter als gemeinsames Ausgangswort rekonstruieren. In ausführlichen Kapiteln widmet sich die britische Autorin den verschiedenen ausgestorbenen oder noch lebenden Nachfolgern des Proto-Indoeuropäischen; ihr gelingt es dabei, die Fülle an Fachwissen so verständlich zu erklären, dass man auch als Laie den Faden nicht verliert. Die wichtigste Botschaft in Der Urknall unserer Sprache aber lautet: Das Proto-Indoeuropäische ist weder an einem festen Ort entstanden noch wurde es von einem „Urvolk“ gesprochen, wie es sich die Nationalsozialisten mit dem Begriff „arisch“ – mit dem sich eigentlich die alten Iraner und Inder selbst bezeichneten – vorstellten. Sprachen verändern sich nicht nur mit der Zeit, sie werden auch von einer Vielfalt an Menschen gesprochen – und die kümmern sich dabei nicht um künstlich erzeugte Grenzen.

 

Julia Schmitz arbeitet als Journalistin und Autorin in Berlin. Bücher sind für sie ein Grundnahrungsmittel.


Die Autorin

Laura Spinney, geboren 1971 in Großbritannien, ist eine preisgekrönte britische Wissenschaftsjournalistin und Romanautorin. Sie schreibt für den Guardian, Nature und den Economist. Ihr Buch 1918. Die Welt im Fieber wurde in Deutschland zu einem Bestseller. Sie lebt in Paris.


Die Übersetzerin

Stephanie Singh, geboren 1975, ist Übersetzerin von Werken von Elisabeth Badinter, Michel Onfray, Stephane Courtois, Yves Grevet und James Patterson.


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