Schweine an die Macht
„Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher.“ Dieser berühmte Satz aus George Orwells Parabel Farm der Tiere ist zur viel zitierten Sentenz geworden. In der von Illustrator Philip Waechter gestalteten Ausgabe der Büchergilde Gutenberg lässt sich Orwells Parabel aus dem Jahr 1945 in all ihrer Aktualität neu entdecken.

Schon einmal hat Philip Waechter mit seiner grafischen Bearbeitung von John Steinbecks Von Mäusen und Menschen bewiesen, dass er ein Gespür dafür hat, Klassiker der englischsprachigen Literatur originell zu interpretieren und dadurch neue Blickwinkel auf scheinbar Altbekanntes zu ermöglichen. Mit Farm der Tiere setzt er diese Arbeit bei der Büchergilde nun fort und fügt George Orwells Erzählung mit beherztem Strich und Farbauftrag wieder eine
zusätzliche Ebene hinzu.

Orwells Geschichte ist ein weltweiter Klassiker, entstanden in der Zeit zwischen November 1943 und Februar 1944. Wie später in seinem zweiten literarischen Erfolg 1984 setzt sich auch Farm der Tiere mit totalitären Systemen und Fragen des Machterhalts auseinander. In dieser Erzählung sind es die Tiere, die den Aufstand gegen die Menschen wagen. Schließlich sei der Mensch die einzige Sorte Tier, die andere ausbeutet und sich über sie erhebt, so legt es der feiste Eber Old Major den anderen Tieren dar, die er zu einer abendlichen Versammlung in den Stall bittet. Der Bauer ist betrunken ins Bett getorkelt, und so gibt es für die Tiere nun Theoriebildung nach Schweineart. „Was auf zwei Beinen geht, ist ein Feind. Was auf vier Beinen geht oder Flügel hat, ist ein Freund.“ Mit dieser einfachen Parole schwört der Eber seine Genossen auf die bevorstehende Revolution ein, die er selbst nicht mehr erleben wird: Kurz nach seiner Ansprache stirbt der Eber. Seine Botschaft aber lebt weiter und findet vor allem in den beiden Schweinen Schneeball und Napoleon glühende Verfechter. Mit der Vertreibung des Bauern und seiner Knechte bricht eine neue Zeit auf dem Hof an. Das Wort „Herrenfarm“ wird durch „Farm der Tier“ ersetzt, täglich singen die Tiere gemeinsam die Hymne der Tiere Englands, die vom neuen Leben in Freiheit kündet, das sie sich erhoffen.
Doch trotz eines gemeinschaftlich erarbeiteten Regelwerks von sieben Geboten, die die neue „Gesellschaft der Genossen“ regeln soll, schleichen sich schon bald erste feine Unterschiede in der Gesellschaft der Gleichen ein. Die Schweine okkupieren das Farmhaus, aus dem sie ihren einstigen Herrn vertrieben haben. Auch erlauben sie sich mit Verweis auf ihre vermeintliche besondere Intelligenz Privilegien, etwa eine Bevorzugung bei den Futterrationen.
Doch nicht nur, dass sich die Schweine rasch als neue Herren im Haus gerieren und von den anderen Tieren absondern – auch auf der Führungsebene gibt es Differenzen und Streit. So strebt der Eber Schneeball ein durchdachtes System neuer Arbeitsformen an, um den Tieren das Leben zu erleichtern. Er wird sogar zum ideellen Vorkämpfer einer Drei-Tage-Woche. In Napoleon aber findet er einen Widersacher, der all diese Fortschritte und Gedankengebäude als unrealistisch abtut und die Pläne seines Artgenossen sabotiert.

Nachdem Napoleon mithilfe seiner Prätorianergarde, bestehend aus von ihm erzogenen Hunden, für die Vertreibung Schneeballs gesorgt hat, erweist sich die einst angestrebte Utopie der Gleichheit endgültig als Farce. Schnell führt Napoleon ein neues Regime am Hof ein, passt die einstigen sieben Gebote der Koexistenz immer wieder an und landet als neuer Herrscher schließlich bei der berühmten Sentenz, die seine Herrschaft über die anderen Tiere rechtfertigt: „Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher als andere.“ Dieser schleichende Weg von der Utopie einer Gesellschaft von gleichgestellten Tieren hin zu einem neuen Regime, in dem sich eine Tierart über die andere erhebt, ist eine, die man in der menschlichen Geschichte immer wieder entdecken kann. Am deutlichsten lässt sich dies natürlich in der früheren Sowjetunion beobachten, wo die Idee des Kommunismus mit der blutigen Herrschaft Stalins ad absurdum geführt wurde. Auch Orwell selbst erlebte diese Desillusionierung, als er sich im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) einer Splittergruppe trotzkistischer Sozialisten anschloss und mitansehen musste, wie aus sozialistischen Ideen ein blutiges Geschäft des Tötens wurde.
Alle Menschen sind Feinde. Alle Tiere sind Genossen.
Mit seinem eindrücklichen Text illustriert Orwell solcherlei Irrwege in Worten, während Philip Waechter die Schweine ganz bildlich über die Seiten tanzen und Hundemeuten geifern lässt. Mit seinem markanten Tuschestrich greift er zentrale Motive der Handlung auf und lässt die Schweine die neuen Gesetze auf die Stallwand pinseln – wobei deren Strich es im Gegensatz zu dem von Waechter an Feinheit vermissen lässt. Farm der Tiere ist ein Buch, das Orwell als klarsichtigen Analytiker und Kritiker des Totalitarismus zeigt. Damit stellte sich der 1903 geborene Schriftsteller auch gegen die Stalin-Euphorie, die einst in England herrschte und die heute bizarr anmutet.
Als Farm der Tiere entstand, befand sich Großbritannien im Krieg mit Nazideutschland. In Stalin und dessen Roter Armee sah man einen wichtigen Verbündeten, den man um keinen Preis verprellen wollte. Dies trieb groteske Blüten, indem etwa die BBC den Geburtstag der Roten Armee feierte. In Oxford standen 1942 die Honoratioren zum Klang der „Internationalen" stramm und Bücher mit Kritik an Sowjetrussland waren schon gar nicht erwünscht. George Orwell musste mit seinem Romanmanuskript am eigenen Leib erfahren, was er in seinem berühmt gewordenen Buchvorwort über die Pressefreiheit kritisierte. Dass dieses Vorwort wiederum der damaligen Zensur zum Opfer fiel, ist nur eine der vielen Pointen rund um Farm der Tiere.
Vier Verleger lehnten sein Manuskript ab, ehe er es bei einem fünften Verlag unterbringen konnte. Bis heute besitzt es in der klaren Kritik an totalitären Irrwegen eine Brisanz, die in der Geschichte seit dem Erscheinen des Buchs immer wieder für ebenjene Zensur sorgte, die Orwell so deutlich kritisiert.

In Nordkorea und Kuba ist Farm der Tiere bis heute verboten, in der DDR wie auch in der Sowjetunion durfte die Fabel weder gedruckt noch besessen oder gar in Umlauf gebracht werden. Das allerdings sorgte auch für spektakuläre Szenen. So wollten westliche Geheimdienste unter der Federführung der CIA für eine Verbreitung der Bücher auf dem Staatsgebiet der Sowjetunion sorgen. Das Unternehmen sollte aus der Luft erfolgen, indem von Westdeutschland aus Ballons mit Farm der Tiere an Bord starteten, um das Buch als Luftfracht über die Grenzen und so zu den Leser:innen zu bringen. Die Luftwaffe der Sowjetunion wiederum war angehalten, die Ballons vom Himmel zu holen, um so die Verbreitung des Buchs zu unterbinden. Ein einprägsameres Bild für die Kraft von Orwells Werk dürfte sich kaum finden lassen.
Auch heute wohnt Farm der Tiere immer noch eine Aktualität inne. Mögen die Sowjetunion und der Stalinismus auch Geschichte sein, so bergen die Themen der Korrumpierung durch Macht und des Weges von Ideen in den Totalitarismus nach wie vor bedenkenswertes Potenzial. Und die Beschreibung von Ausbeutung und unser fataler Umgang mit der Schöpfung in Zeiten von Artensterben und Erdüberlastung ist ebenso nach wie vor gültig. Liest man Orwells Erzählung, drängt sich nicht nur diesbezüglich, sondern in der Frage der sich weiter öffnenden Schere zwischen den Klassen der Eindruck auf, dass sich der hellsichtige Romancier all diese Entwicklungen gar nicht so kühn ausmalen konnte, wie sie sich heute darstellen. Diese Brisanz in Verbindung mit dem neuen künstlerischen Ansatz von Philip Waechter macht aus Farm der Tiere eine Lektüre, die die Zeitlosigkeit von Orwells als Fabel gelabelter Erzählung zeigt.
Marius Müller machte die Dechiffrierung der Tiere und ihrer historischen Vorbilder, verbunden mit der Erkenntnis, wie zeitlos gut und gültig dieses Werk auch achtzig Jahre nach seinem Erscheinen noch ist, große Freude. Auf dem Blog Buch-Haltung.com schreibt er über seine Lektüre.
Der Autor
George Orwell (1903–1950) wurde als Sohn eines britischen Kolonialbeamten geboren. Er diente in der burmesischen Imperial Police, arbeitete als Lehrer und Buchhandelsgehilfe, kämpfte auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg und arbeitete als freier Schriftsteller und Journalist. Neben seinen Welterfolgen Farm der Tiere und 1984 ist er durch zahllose politische wie literarische Essays bekannt geworden.
Der Illustrator
Philip Waechter, geboren 1968, studierte Kommunikationsdesign mit dem Schwerpunkt Illustration an der Fachhochschule Mainz. Seit 1995 zeichnet und schreibt er Bilderbücher, Kinderbücher und Comics für Kinder und Erwachsene. Für die Büchergilde illustrierte Waechter u. a. Von Mäusen und Menschen von John Steinbeck (2023) und Happy Birthday, Türke! von Jakob Arjouni (2017). Er lebt als freier Zeichner in Frankfurt am Main und gründete 1999 mit anderen Künstler:innen die Labor Ateliergemeinschaft.
Der Übersetzer
Ulrich Blumenbach, geboren 1964 in Hannover, hat Anglistik und Germanistik in Münster, Sheffield und Berlin studiert. Seit 1993 arbeitet er als Übersetzer aus dem Englischen.