Utas Akte
Inspiriert von einer realen Begegnung, taucht Clemens Böckmann mit Was du kriegen kannst tief ein in das Leben im Schatten der Staatssicherheit – und das mit all seinen Ambivalenzen. Wie aus Akten Literatur wird, warum Opfer- und Täterrollen verschwimmen können und was der Roman zur heutigen Debatte über Sexarbeit beiträgt, erzählt der Autor im Interview.

Lieber Herr Böckmann, Utas Charakter basiert auf einer echten Person – wer ist sie? Gab es hier eine Begegnung wie zu Beginn des Romans?
Uta ist die Hauptfigur in meinem Roman. Ihre Lebensgeschichte wird erzählt. Sie wird geschildert als eine junge Frau, die in einer kommunistisch geprägten Familie im Erzgebirge aufwächst. Irgendwann wird ihr diese Welt jedoch zu klein. Sie ist auf der Suche nach Abenteuer, nach Ausdruck, Leben und Offenheit. Später kommt sie in Kontakt mit der Staatssicherheit – eine folgenschwere Begegnung. Utas Geschichte hat Ähnlichkeiten mit der Lebensgeschichte einer Freundin von mir. Dass wir uns kennenlernten, war Zufall.
Wir lernen Uta u. a. aus Sicht der Stasi samt Akten und schwarzen Balken kennen – wie haben Sie für Was du kriegen kannst recherchiert? Wie fasst man das in Literatur oder auch nicht?
Ich habe vorher nicht zur DDR gearbeitet und musste mich in den gesamten Komplex und Zusammenhang einlesen. Immer wieder waren auch Gespräche mit Zeitzeug:innen wichtig. Als ich anfing, zum Thema zu recherchieren, gab es im deutschsprachigen Raum kaum Publikationen dazu. Dazu habe ich mich in die Akten eingelesen. Die Stasi hat eine eigene Sprache gesprochen, bei der es mir dann auch wichtig war, diese in den Roman aufzunehmen. Allein schon durch die Sprache bekommt man einen sehr starken Eindruck davon, wie hier mit Menschen umgegangen wurde.
Ihr Roman spielt sowohl in der Zeit der DDR als auch in der Gegenwart. Warum die verschiedenen Erzählperspektiven?
Mir war es wichtig, dass Uta eine große Autonomie behält. Sie muss einen eigenen Weg finden, mit ihrer Geschichte umzugehen. Dazu braucht es Zeit. Die Figur darf sich erinnern, darf sich täuschen, darf in den Text eingreifen und ihm widersprechen. Gleichzeitig wird immer wieder deutlich, dass die Geschichte nicht vergangen ist. Die DDR als Staat gibt es nicht mehr, doch die Menschen sind nach wie vor durch die DDR geprägt. Geschichte hört nicht einfach auf, sondern setzt sich auf verschiedenen Ebenen lange fort.


In der Maschinerie des Spitzelapparats ist die Protagonistin Opfer und Täterin zugleich. Wie geht das?
Auf der einen Seite profitiert sie von der Zusammenarbeit mit der Stasi. Sie erhält Geld für jeden Bericht, den sie abgibt. Und sie schreibt viele Berichte: Über ihre Freundinnen, über Bekannte oder eben Männer aus dem Ausland. Auf der anderen Seite war Prostitution bzw. Sexarbeit, wie wir es heute kennen, in der DDR so nicht bekannt, Handlungen dieser Art standen jedoch unter Strafe. Menschen, die diese Tätigkeiten ausgeübt haben oder nur deren verdächtigt wurden, wurden so leicht erpressbar durch die Stasi. Und wer einmal in dem System drin war, wurde schnell auch vollständig überwacht. Das übte sich dann auf jede Art von Beziehungen aus. Auch meine Hauptfigur Uta wird von der Stasi bedrängt, überwacht, verfolgt und explizit nicht vor sexualisierter Gewalt geschützt.
Was du kriegen kannst ist unheimlich atmosphärisch. Die Gerüche, vor allem der Qualm von Zigaretten, und die Geräusche des Milieus sind fast erlebbar. Bringt uns das die Gräueltaten der DDR näher?
Das kann ich nur schwer beantworten. Vermutlich müssen das die Lesenden selbst entscheiden. Ich weiß auch nicht, ob es das Ziel von Literatur wäre, einem Gräueltaten näherzubringen. Was mich in jedem Fall beim Schreiben gereizt hat, war, dass es hierbei für mich noch mal ein anderes Bild der DDR gab. In dieser Geschichte geht es um Luxus, Pelz, Nobelhotels, Reisen und viel Sekt. Bei der Recherche stieß ich auf eine DDR, die mir so gar nicht bekannt war.
Bis heute sind Sexarbeiterinnen in unserer Gesellschaft beinahe unsichtbar oder werden gegenteilig moralisierend angegriffen – ein differenzierter Diskurs muss her. Inwiefern trägt Ihr Roman dazu bei?
Den Begriff der Sexarbeit gab es damals nicht. In der DDR sprach man von Geschenke-Sex. In der Auseinandersetzung damit werden auch bestimmte Stereotype, die uns heute vielleicht geläufig sind, infrage gestellt. Ob das Ideal der romantischen Liebe oder eine Hochzeit aus Geldgründen: Der Roman befragt die Beziehungsweisen der Menschen damals – zwischen Ost und West. Gleichzeitig zeigt er die Alltäglichkeit dieser Tätigkeit. Es sind vor allem die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Uta ihrer Tätigkeit nachgeht, die sie für sie zur Gefahr machen. Gerade mit Blick auf die Evaluation des Prostituiertenschutzgesetzes in diesem Sommer ist der Roman auch ein Beispiel dafür, wie und wo staatliche Eingriffe Gefahren bergen – und wo sie vielleicht schützen können.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Lea-Marie Rabe.
Der Autor
Clemens Böckmann, geboren 1988, studierte in Kiel, Leipzig, Lissabon und Tel Aviv. Er arbeitet als Filmemacher, Herausgeber und Autor u. a. für Deutschlandfunk Kultur und unterschiedliche Zeitungen. Seit 2019 betreut er den Nachlass des Dichters und Skispringers Alvaro Maderholz. Bei der Büchergilde erschien von ihm Wahrscheinlich war es anders (2016).