Umbuscht v. Wiszbegierde und Intuition


„Ich will nicht sterben“, lautet ein Kernsatz der Poetik und Lebenskunst Friederike Mayröckers. Die Grande Dame der österreichischen Literatur starb 2021 mit 96 Jahren. Doch die bewundernswerte Frische ihrer Poesie zeugt von mehr als nur einem Hauch Unsterblichkeit. Bei der Büchergilde erscheint exklusiv der letzte von ihr autorisierte Gedichtband in einer einmaligen Auflage.

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Zum Hinreißen begabt war Friederike Mayröcker und ist ihr so reiches, unverkennbares Werk. An die einhundert Veröffentlichungen erschienen seit den 1950er-Jahren: Gedichte, Prosa, von ihr selbst so genannte Proeme, Essays, Hörspiele, Reden und vieles, das sich einer Kategorisierung entzieht, auch ihre Interviews sind legendär. Wo also beginnen? Lämmchens Biscuit versammelt Proeme aus dem Spätwerk, nämlich aus den zwischen 2013 und 2020 erschienenen Bänden da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete, études, cahiers und fleurs. Als die Texte entstanden, war Friederike Mayröcker zwischen 86 und 94 Jahre alt. In ihnen fließen ihre mitreißende Sprach- und Lebenslust, ihre Geistesgegenwart und wache Neugier, Erinnerungen, Reflexionen, Witz und Untröstlichkeit in einer Verdichtung zusammen, die so existenziell wie leichtfüßig ist.

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Leichtfüßig und fast aberwitzig frei, wobei ihre Freiheit der Erfahrung des Ganz-bei-sich-Seins ihrer Jahrzehnte überspannenden konzentrierten Klausur- und Schreibpraxis entspringt wie im selben Moment deren Überschreiten. Es sind Texte, die im Alltäglichen das Grundstürzende berühren, wenn sie von morgendlichen Beobachtungen, Krankheit, endlosen Kindheitssommern sprechen, von Korrespondenzen, Freundschaft und Kunst, von Momenten mit ihrem im Jahr 2000 verstorbenen „Hand- und Herzgefährten“ Ernst Jandl und der Ungeheuerlichkeit, die das eigene Weiterleben bedeutet, und die doch auf jeder Seite schalkhafte Volten schlagen, die baff und staunen machen, kichern, lachen. Die trotzig auf ihrem „Nein“ beharren, während sie sich im Undenkbaren üben, als „ich Debütantin des Todes“.

Umbuscht v. Wiszbegierde und Intuition kann ich nicht aufhören die Welt der Liebe abzubilden (…) man fragt mich was ist der Inhalt nämlich Schlepptau des neuen Buches, ich sage ‚verzage nicht!‘
aus: Lämmchens Biscuit von Friederike Mayröcker

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Ein Kennzeichen dieser Aufzeichnungen ist, dass sie meist klein beginnen, wie mitten im Satz, mitten im unaufhörlichen Strom der Gedanken, der Begegnung, des imaginären Gesprächs und ohne Satzzeichen oder durch Komma enden, also gar nicht enden, vielmehr bloß pausieren, um sich sogleich fortzusetzen, anzuknüpfen, in einem Prozess unabschließbarer Vergegenwärtigung. Quicklebendig ist ihre Sprache und von einer filigran gesetzten Musikalität. Ein Füllhorn charakteristischer Auszeichnungen verleiht den Seiten dabei etwas Partiturhaftes, etwa ihr Einsatz von Wiederholungen, Sprüngen, Diminutiven, Anführungs- und Ausrufezeichen, Abkürzungen, fremdsprachlichen Einsprengseln, Klammern, Versalien, Kursiva, Einrückungen, Unterstreichungen, Zeichnungen und Handschrift oder mehreren Arten von Pausenzeichen. Damit gestaltet sie ein berückendes Repertoire an Expressivität, das so eigensinnig wie unmittelbar einleuchtend ist.


Die Autorin

Friederike Mayröcker (1924–2021), geboren in Wien, begann bereits 1939 mit ersten literarischen Arbeiten, sieben Jahre später folgten kleinere Veröffentlichungen von Gedichten. 1954 lernte sie ihren späteren Lebensgefährten Ernst Jandl kennen. Nach Gedichtveröffentlichungen in der Wiener Avantgarde-Zeitschrift Plan erschien 1956 ihre erste Buchveröffentlichung. Seitdem folgten Lyrik und Prosa, Erzählungen und Hörspiele, Kinderbücher und Bühnentexte.


Die Herausgeberin

Daniela Seel

Daniela Seel, geboren 1974 in Frankfurt am Main, lebt als Lyrikerin, Übersetzerin und Verlegerin des unabhängigen Verlags kookbooks mit ihrer Familie in Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie u. a. die Gedichtbände was weißt du schon von prärie und Auszug aus Eden.

Kurz gefragt

Warum Mayröcker?
Mayröckers Unbedingtheit gelingt es ein ums andere Mal, mich aufzurichten, ihre unbedingte Liebe zum Leben, ihre unbedingte Sprache. Noch das Grundstürzende kann sie in etwas Hinreißendes verwandeln. Die Verletzungen und menschlichen Abgründe sind da, Mayröckers Poesie nimmt es mit ihnen auf.

Wer sollte Mayröcker lesen?
Alle, die gerade in diesen Wochen nicht verzagen wollen.

Wie sollte man Mayröcker lesen?
In kleinen Bissen. Die Proeme sind so reichhaltig, sie halten lange vor. Schon eines pro Tag genügt vielleicht. Und gerne in verschiedenen Situationen und Konstellationen davon kosten.

Haben Sie ein Lieblings-Proem?
Nein, zum Glück sind sie ein unermessliches Geflecht, das immer wieder frische wie lang vertraute Lieblinge austreibt. Heute zum Beispiel war es erneut das Proem vom 2.3.18.