Künstlerischer Durchbruch
Zum 150. Geburtstag von Thomas Mann erscheint die überarbeitete Nachauflage der Büchergilde-Ausgabe von Der kleine Herr Friedemann: eine melancholische Novelle, mit der die literarische Karriere des späteren Nobelpreisträgers begann. Mit meisterhaften Illustrationen des renommierten Grafikers Karl-Georg Hirsch.

Im April 1897 ist der junge Thomas Mann überzeugt, dass ihm nichts mehr im Wege stehen wird, um endlich Schriftsteller zu werden. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er in seiner zweiten Heimat München den damals renommierten Autor Richard Dehmel kennengelernt und ihm einige Textskizzen gezeigt. Jetzt sind diese überarbeitet und Thomas Mann schreibt an seinen Freund, den Kunsthistoriker Otto Grautoff: „Mir ist seit einiger Zeit zu Mute, als seien irgendwelche Fesseln von mir abgefallen, als hätte ich jetzt erst Raum bekommen, mich künstlerisch auszuleben.“
Einer der Texte, die Novelle Der kleine Herr Friedemann, wird im Mai 1897 in der Zeitschrift des S. Fischer Verlags Neue Deutsche Rundschau publiziert. Ein Jahr später ist sie Titelstück von Thomas Manns erster Buchveröffentlichung, einer Novellensammlung. Begeistert von seinem Können, ermutigt der Verleger Samuel Fischer seinen Autor und bittet ihn um ein größeres Prosawerk, „vielleicht einen Roman, wenn er auch nicht so lang ist“. Die Umfangsbegrenzung akzeptiert der junge Schriftsteller nicht und schickt stattdessen im Herbst 1900 ein Manuskript von mehr als tausend Seiten an Fischer: Buddenbrooks. Eine Weltkarriere beginnt.
Johannes Friedemann, Titelfigur in Der kleine Herr Friedemann, ist seit einem Unfall als Säugling verwachsen, mit spitzer und hoher Brust, einem weit ausladenden Rücken und mageren Armen. Er wächst mit seiner liebevollen Mutter, einer verwitweten Konsulin, und seinen drei älteren Schwestern in einer norddeutschen Stadt auf, die unschwer als Thomas Manns Geburtsort Lübeck zu erkennen ist. Friedemann wird von der Gesellschaft aufgrund seiner zwergenhaften Gestalt mit vorsichtiger Distanz betrachtet. Eine erste zarte Annäherung an Frauen misslingt. Im Alter von 30 Jahren versucht er, sein Leben ohne Liebe zu akzeptieren, erwartet bestenfalls weitere zehn oder zwanzig Jahre, „erfüllt von einem stillen und zarten Glück“.


Ein unerwartetes Ereignis stört seinen vermeintlichen „Seelenfrieden“. Aus Berlin wechselt ein neuer Bezirkskommandant in die Kaufmannsstadt, von der Oberschicht mit Neugier betrachtet. Besonders seine Gattin, Gerda von Rinnlingen, ist schnell Mittelpunkt des Klatsches. Sie erscheint den biederen Großbürger:innen als zu frei, modern und unnahbar. Wie kann eine Frau öffentlich rauchen, selbst ihre Kutsche lenken und ihren hoch angesehenen Ehemann mit Herablassung behandeln! Als Herr Friedemann ihre Bekanntschaft macht, treffen zwei Außenseiter aufeinander. „Auch ich bin viel krank“, gesteht Frau von Rinnlingen ihrem Gegenüber. Der Titelheld der Novelle verfällt der jungen Frau von 24 Jahren und ihrem grausamen Spott. Es gelingt ihm nicht, „den Untergang im Geschlechtlichen“ zu verhindern, „die Hunde im Souterrain schon an die Kette zu bringen“, wie Thomas Mann in einem Brief an Grautoff schreibt und dabei eine Metaphorik von Nietzsche übernimmt.
Bereits mit seiner ersten Buchveröffentlichung fand Thomas Mann ein Thema, das ihn zeit seines Lebens beschäftigen sollte: den Einbruch der Triebwelt in ein geordnetes Leben, den Zusammenhang von Liebe und Verlangen, Krankheit und Tod. In seinem Aufsatz On Myself schreibt er 1940 im Rückblick: „Diese melancholische Geschichte des kleinen Buckligen stellt auch insofern einen Markstein in meiner persönlichen Geschichte dar, als sie zum erstenmal [sic] ein Grundmotiv anschlägt, das im Gesamtwerk die gleiche Rolle spielt wie die Leitmotive im Einzelwerk.“
Der kleine Herr Friedemann enthält Stilmerkmale, die Mann später kunstvoll weiterentwickelte: Einsatz von Leitmotiven, Musik von Wagner, genaue Beschreibung der Charaktere, verbunden mit psychologischem Einfühlungsvermögen, bissig-ironischer Blick auf die „gesellschaftlichen Kreise“ der „gemütlichen Großkaufleute“. Die anrührende Novelle führt schlüssig auf ein dramatisches Ende zu, das auch heute noch tief beeindruckt.
Als ihre Blicke sich trafen, sah sie durchaus nicht beiseite, sondern fuhr fort, ihn ohne eine Spur von Verlegenheit zu betrachten, bis er selbst, bezwungen und gedemütigt, die Augen niederschlug.
Die illustrierte Ausgabe der Büchergilde erscheint zum 150. Geburtstag Thomas Manns mit meisterhaften Illustrationen von Karl-Georg Hirsch. Dieser ist „einer der großen Grafiker unserer Zeit“, wie die bibliophile Pirckheimer-Gesellschaft zum 85. Geburtstag des Künstlers urteilte. 1938 in Breslau geboren, studierte Hirsch nach einer Stuckateur-Ausbildung an der berühmten Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, an der er später zum Professor und Dekan berufen wurde. Im Laufe seines Lebens illustrierte Karl-Georg Hirsch zahlreiche Bücher, darunter auch mehrere für die Büchergilde.
Seine Schwarz-Weiß-Illustrationen zu Der kleine Herr Friedemann wurden erstmals 2000 veröffentlicht, die aktualisierte Nachauflage übernimmt sie vollständig. Hirsch zeichnet mit feinem Strich und konzentriert sich auf zentrale Szenen der Novelle. Wir sehen die Figuren häufig von oben oder unten, was die unterschiedlichen Perspektiven des kleinwüchsigen Herrn Friedemann und seiner Mitmenschen unterstreicht. Die Gesichter wirken verzerrt, boshaft oder überwältigt von intensiven Gefühlen. „Der Zauberer“, wie Thomas Mann innerhalb seiner Familie genannt wurde, hat mit Der kleine Herr Friedemann ein Zeichen in der Literatur gesetzt. „(...) während ich früher eines Tagebuchs bedurfte, um, nur fürs Kämmerlein, mich zu erleichtern, finde ich jetzt novellistische, öffentlichkeitsfähige Formen und Masken, um meine Liebe, meinen Hass, mein Mitleid, meine Verachtung, meinen Stolz, meinen Hohn und meine Anklagen – von mir zu geben ... Das begann, glaube ich, mit dem Kleinen Herrn Friedemann (...). Und ich finde neue Formen, um noch mehr zu sagen – und ich habe etwas zu sagen!“, schreibt er an Otto Grautoff. Das Werk des großen Schriftstellers gilt es nun in seinem Jubiläumsjahr neu zu entdecken.
Lutz Lenz ist freier Journalist und bewundert die Romane von Thomas Mann seit langer Zeit. Jetzt genießt er Lesen und Leben in Südfrankreich (Labeyriebnb.com).
Der Autor
Thomas Mann wurde 1875 in Lübeck geboren. 1933 verließ er Deutschland aus politischen Gründen. Er ging zunächst in die Schweiz, lebte dann von 1938 bis 1952 in den Vereinigten Staaten von Amerika und kehrte 1952 in die Schweiz zurück, wo er 1955 starb. Thomas Mann schuf zahlreiche Werke der Weltliteratur und wurde 1929 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
Der Illustrator
Karl-Georg Hirsch, geboren 1938 in Breslau, studierte nach einer Lehre als Stuckateur an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, wo er ab 1970 unterrichtete und 1989 zur Professur berufen wurde. Künstlerisch fokussierte er sich auf den Holzstich und illustrierte u.a. für die Büchergilde Gutenberg E.T.A. Hoffmanns Das öde Haus und Isaac B. Singers Methusalem. Sein Gesamtwerk ist 2011 mit dem Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig ausgezeichnet worden.