Zone der Wünsche und des Schreckens


Picknick am Wegesrand ist einer der großen Klassiker der Science-Fiction-Literatur. Seine Verfilmung durch Andrei Tarkowski gilt als Meisterwerk der Filmgeschichte. In der Büchergilde erscheint die neue Übersetzung des Kultromans, der bis heute mit seinem subtilen Horror und feinsinnigen Witz begeistert, mit aufwendigen Illustrationen von Jörg Hülsmann.

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Außerirdische sind auf der Erde gelandet, doch gesehen hat sie niemand. Nur die seltsamen Gegenstände, die sie zurückgelassen haben, zeugen davon, dass sie überhaupt da waren. Dort, wo ein Besuch auf der Erde stattgefunden hat, ist eine Zone entstanden, wo die Gesetze der Physik nicht mehr zu gelten scheinen und wo sich Dinge finden lassen, die man nur schwer beschreiben kann. Es ist gefährlich, in die Zone zu gehen. Ein falscher Schritt kann den Tod bedeuten, und man kann sich nie sicher sein, wo genau die Gefahr lauert. Trotzdem zieht es immer wieder Forschende, Tourist:innen und sogenannte »Stalker«, illegale Schatzsuchende, in die Zone. Nicht alle von ihnen kehren zurück, und das, was sie dort finden, ist selten das, wonach sie gesucht haben.

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Picknick am Wegesrand ist ein besonderer Science-Fiction-Roman, der ohne die typischen Beschreibungen von außerirdischen Monstern, dystopischen Gesellschaften, Robotern oder Raumschiffen auskommt. Die Autoren Arkadi und Boris Strugatzki setzen stattdessen auf subtilen Horror und Uneindeutigkeit, die viel Raum lässt für die Vorstellungskraft der Leser:innen. Ein Erfolgskonzept: Die Strugatzki-Brüder, die in den dreißiger Jahren in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, aufwuchsen, waren die meistgelesenen Autoren der Sowjetunion. Allerdings gab es immer wieder Probleme mit der staatlichen Zensur. Das Manuskript von Picknick am Wegesrand hatten die Strugatzkis 1971 fertiggestellt, doch es erschien erst acht Jahre später als Buch. Die Behörden störten sich an der düsteren Stimmung und den vielen Slang-Ausdrücken im Roman.

Die Leser:innen sahen und sehen das anders: Bis heute begeistert der Roman weltweit Millionen mit seiner einzigartigen Mischung aus lockerem Witz, lebensnahen Charakteren und düsterer Rätselhaftigkeit. Die neue Übersetzung von David Drevs macht den Text für das deutschsprachige Publikum noch zugänglicher. Begeistert vom Roman war auch der Filmemacher Andrei Tarkowski. Sein faszinierend unheimlicher Film Stalker, der als eines der bedeutendsten Werke der Filmgeschichte gilt, basiert auf Motiven des Romans. Picknick am Wegesrand wird zu Recht auch häufig in einem Atemzug mit Stanislaw Lems Meisterwerk Solaris genannt – einem ebenso poetischen und rätselhaft-philosophischen Science-Fiction-Roman, der ebenfalls von Tarkowski verfilmt wurde.

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Wie bei Lem wissen auch die Protagonist:innen von Picknick am Wegesrand nicht so genau, womit sie es eigentlich zu tun haben. »Wenn man einfach so hinschaut, sieht die Zone aus wie ein gewöhnliches Stück Land. Die Sonne scheint darauf wie auf den Rest der Erde, und man hat nicht das Gefühl, dass sich dort irgendwas verändert hat«, sagt Redrick Shewhart, ein »Stalker«, den der Roman auf seinen Expeditionen begleitet. Doch gewöhnlich ist an dieser Zone nichts, sie ist ein Ort, der gleichzeitig unvorstellbare Schrecken und größtes Glück zu versprechen scheint. Abhängig davon, wen man fragt, ist die Zone entweder »ein Geschwür, eine Schatzkammer, eine Versuchung des Teufels, eine Büchse der Pandora« oder etwas ganz anderes. Der geheimnisvolle Ort dient als Projektionsfläche für Ängste und Wünsche der Menschen, nicht wenige erhoffen sich von ihm ein besseres Leben. »Die Menschen, die um die Zone herum leben, wissen nicht genau, wofür die Zone gut ist, aber sie verbinden mit der Zauberkraft der Zone ihre Hoffnungen, ihre geheimen Wünsche und Träume, ihre Zukunft«, schreibt Wladimir Kaminer in seinem Vorwort zum Roman. Gleichzeitig gibt es Zweifel an diesen utopischen Vorstellungen: »Was ist, wenn die Zone nur verspricht und nichts erfüllt, wenn es gar keine Abkürzung zum Glück gibt?« Eine Frage, mit der der Roman laut Kaminer viele Menschen in der Sowjetunion ansprach, die Zweifel an den staatlichen Versprechen von einem besseren Leben hatten.

‚Picknick am Wegesrand‘, einst der berühmteste Science-Fiction-Roman der Sowjetunion, liest sich heute seltsam aktuell, ein Gruß aus der Vergangenheit mit Blick in die Zukunft.

Wladimir Kaminer

Redrick Shewhart, der von den Strugatzkis als Gangster mit Familiensinn beschrieben wird, ist eher Realist als Träumer. »Die Menschen haben hier nichts zu suchen. Die Zone hält nichts Gutes für uns bereit«, sagt er. Dennoch kehrt er immer wieder in das gefährliche Gebiet zurück: zuerst als Mitarbeiter am offiziellen Forschungsinstitut »für außerirdische Kulturen«, dann als illegaler Stalker, der nach Beute sucht und außerirdische Gegenstände an zahlungskräftige Sammler verkauft. Einige der geheimnisvollen Gegenstände erweisen sich als nützlich, sie lassen sich zum Beispiel als Akkus verwenden. Bei anderen weiß man nicht, welchem Zweck sie dienen, sie sind bloß schön anzusehen. Von wieder anderen geht eine lebensbedrohliche Gefahr aus. Es gehört zur Kunst von Stalkern wie Redrick, das eine vom anderen zu unterscheiden. Nicht immer gelingt es ihnen.

Die unerschrockenen Stalker, die eine verlassene Zone voller Gefahren und zurückgelassener Objekter durchstreifen, sind seit dem Erscheinen des Romans zu einem festen Bestandteil der Popkultur geworden: Die erfolgreiche Computerspielserie S.T.A.L.K.E.R. spielt im Sperrgebiet um Tschernobyl, und in den postapokalyptischen Metro-Romanen von Dmitry Glukhovsky werden diejenigen, die sich aus der Sicherheit der U-Bahn-Schächte an die radioaktiv verseuchte Oberfläche wagen, ebenfalls Stalker genannt. Auch in das reale Leben hat der Begriff Eingang gefunden: Einige Urban Explorer, die in ihrer Freizeit verlassene Gebäude und Industrieanlagen erkunden, nennen sich selbst Stalker. In der Tschernobyl-Sperrzone sind sie ebenfalls aktiv. Dort gibt es sichere Wege, aber von einem Schritt auf den nächsten kann die radioaktive Gefahr rapide ansteigen – ganz ähnlich wie die plötzlichen unsichtbaren Gefahren, die auf die Stalker in Picknick am Wegesrand lauern.

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Solchen Gefahren, die im Roman »Fallen« genannt werden, begegnet Redrick auch auf seiner schwierigsten Mission. Tief in der Zone soll eine goldene Kugel versteckt sein, die die Kraft hat, Wünsche zu erfüllen. Auf dem Weg dorthin lauern nicht nur »Hexensülze« (eine sumpfige Flüssigkeit, in die man besser nicht treten sollte) und »Mückenglatzen« (Punkte, an denen sich die Schwerkraft aufs Tausendfache erhöht), sondern auch Phänomene, die selbst noch einen gestandenen Stalker wie Redrick kalt erwischen: »Über einen Haufen aus altem Müll, Glasscherben und Lumpen kriecht eine Art Zittern, ein Flirren wie heiße Luft auf einem Blechdach zur Mittagszeit, es schwappt über den Hügel und wälzt sich unaufhaltsam auf uns zu.«

Warum die kaum greifbaren Gefahren der Zone uns beim Lesen mehr gruseln als jedes Monster in einem Horrorfilm, bringt eine andere Romanfigur, der Physiker und Alien-Forscher Valentin, auf den Punkt: »Etwas Furchtbareres als ein Gespenst oder einen Vampir können wir uns nicht vorstellen. Dabei ist ein Verstoß gegen das Prinzip der Kausalität weitaus furchtbarer als ganze Scharen von Gespenstern.« Statt einem Angreifer aus Fleisch und Blut sieht man sich in der Zone existenziellen Fragen gegenübergestellt. So wird für Redrick die Suche nach der goldenen Kugel zu seiner schwersten Prüfung: Was ist er bereit zu opfern für seine »Beute«? Welchen Wunsch soll ihm die goldene Kugel erfüllen? Ob er will oder nicht, Redrick wird unterwegs viel über sich selbst lernen. Laut Physiker Valentin sind die außerirdischen Objekte »vom Himmel herabgefallene Antworten auf Fragen, die wir noch nicht zu stellen vermögen«.

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Illustrationen von Jörg Hülsmann
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Der Illustrator Jörg Hülsmann, der die Neuausgabe von Picknick am Wegesrand für die Büchergilde gestaltet hat, fängt das Geheimnisvolle, Verheißende und Bedrohliche der Zone in seinen Zeichnungen ein. Über die scheinbar alltägliche, unveränderte Landschaft legen sich Kleckse, Wellen, Striche und Kreise wie ein Filter, durch den man auf die Szenen blickt: Hier ist es nicht mehr so, wie es mal war, verschiedene Schichten der Realität haben sich übereinandergelegt. Die Umgebung ist konkret und klar dargestellt und ist zugleich nicht ganz greifbar, die Wahrnehmung verzerrt. »Die Vorstellung von Energien und Realitätsebenen, die parallel zu der für uns sichtbaren Wirklichkeit existieren und unsere Welt und unser Leben beeinflussen, sollten Teil meiner Illustrationen werden und in loser Form auch außerhalb der Bildtafeln auftauchen, wie sie in der Geschichte die Realität durchwirken«, sagt Hülsmann über seine Arbeit.

Die Störungen im Gewohnten und der veränderte Blick auf die Realität haben Picknick am Wegesrand zum zeitlosen Klassiker werden lassen. »Ich habe das Gefühl, dieses Buch lebt«, schreibt Wladimir Kaminer. Genauso wie die ersten Leser:innen in der Sowjetunion der siebziger Jahre finden wir heute darin etwas über uns selbst, über unsere Gesellschaft und das, was es dort draußen, jenseits der Erde, sonst noch geben könnte. Die große Stärke des Romans ist seine Unbestimmtheit, seine Offenheit – statt Antworten vorzugeben, lässt er den Leser:innen den Raum, überhaupt erst Fragen zu stellen, nachzudenken. Die wohl größte Frage muss dabei jeder für sich beantworten: Was wollen die Außerirdischen auf der Erde? Planen sie eine Invasion? Erforschen sie unser Verhalten? Wollen sie uns etwas beibringen? Oder waren sie eigentlich woandershin unterwegs und ihr Besuch bloß ein zufälliges Picknick am Wegesrand?

 

Norma Schneider ist freie Autorin, Journalistin und Lektorin in Frankfurt am Main. Sie liebt kluge Science-Fiction und russische Literatur – wenn beides zusammenkommt, umso besser!

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Die Autoren

Arkadi Strugatzki (1925–1991) war ein sowjetischer Schriftsteller. Er wurde während seiner Armeezeit zum Japanisch-Dolmetscher ausgebildet und verbrachte so die Kriegsjahre im Osten Russlands. Später war er als Verlagslektor und Übersetzer in Moskau tätig.

Boris Strugatzki (1933–2012) zählt zusammen mit seinem Bruder Arkadi zu den erfolgreichsten russischen Autoren der modernen Science-Fiction und Fantastik, ihre Bücher sind in über 30 Sprachen übersetzt. Viele ihrer Romane wurden verfilmt.


Der Illustrator

Jörg Hülsmann, geboren 1974, studierte Illustration in Düsseldorf und Hamburg. Er zeichnet für verschiedene Verlage und realisiert freie Projekte. Sein Buch Die unsichtbaren Städte nach dem Roman von Italo Calvino wurde von der Stiftung Buchkunst unter die schönsten deutschen Bücher gewählt. Er lebt in Berlin.


Limitierte Vorzugsausgabe