Von Telefonkritzeleien, druckfrischen Bilderbogen und der Erfindung grotesker Charaktere


Illustrator Martin Stark im Gespräch über Professor Unrat, Frankenstein und den Ring des Nibelungen

Zum 150. Geburtstag von Heinrich Mann haben wir endlich wieder Professor Unrat im Programm der Büchergilde: Eindrucksvoll illustriert von Martin Stark, der mit dieser Ausgabe 2014 den Büchergilde Gestalterpreis gewonnen hat.

Ein willkommener Anlass für uns, mit Martin Stark über seine Illustrationen und seine Verbindung zur Büchergilde zu sprechen. In unserem Interview wollten wir wissen: Wie findet ein Buchillustrator eigentlich zu seinem Stil, Herr Stark?

Illustrator Martin Stark, Frankfurter Buchmesse 2018

2014 wurden Sie mit Ihren Zeichnungen für Professor Unrat mit dem Büchergilde Gestalterpreis ausgezeichnet. Die Jury lobte Ihre „überzeugenden, expressionistischen Illustrationen mit ihrer comic-haften und modernen Bildsprache“. Wie haben Sie diesen Stil damals entwickelt, welche Inspirationsquellen hatten Sie?

Dieser Stil war über die Jahre bei Telefonkritzeleien gewachsen, das heißt aus kleinen Skizzen, die man ganz beiläufig beim Telefonieren, Fernsehen oder Musik hören mit einem Kugelschreiber, Filz- oder Bleistift auf einem Notizblock macht. Da diese Skizzen ursprünglich nur zum Zeitvertreib gedacht waren, ohne einem besonderen Zweck zu dienen, konnte ich damit ganz ungezwungen experimentieren und unbewusst meine Vorlieben für Comics, Cartoons, Musik und Filme einfließen lassen.

Professor Unrat war dann das erste größere Projekt, bei dem ich diesen Stil verwendet hatte. Die kantigen, karikaturartigen Zeichnungen passten gut zum Inhalt der Geschichte. Beim Zeichnen haben mich besonders die Schwarzweißfilme des Deutschen Expressionismus beeinflusst: "Das Kabinett des Doktor Calligari" mit seinen abstrakten Kulissen und dem grotesken Make-Up der Schauspieler und natürlich "Der blaue Engel", die Filmadaption von Professor Unrat. Die Schülerclique um Lohmann wurde durch die "Drei Stooges" inspiriert.

Detailaufnahme der Büchergilde-Ausgabe von Professor Unrat

 

Als Sie den Büchergilde Gestalterpreis für Professor Unrat gewonnen haben, waren Sie noch im Studium. Jetzt, sieben Jahre später zum 150. Geburtstag von Heinrich Mann, freuen wir uns sehr, diesen tollen Band wieder bei uns in einer Sonderausgabe im Programm zu haben. Wie ist es für Sie, nach mehreren Jahren in ‚Ihren‘ Professor Unrat reinzublättern – blicken Sie heute mit anderen Augen auf Ihre Zeichnungen?

Detailaufnahme der Büchergilde-Ausgabe von Professor Unrat

Mit den Zeichnungen bin ich immer noch sehr zufrieden. Auch kann ich mich noch gut erinnern, dass es sehr viel Spaß gemacht hat, all die grotesken Charaktere zu erfinden und die verschiedenen ungewöhnlichen Perspektiven und Ausschnitte für die einzelnen Szenen zu konstruieren. Ohne große Anlaufschwierigkeiten entstanden die Zeichnungen ziemlich mühelos und spontan.

Bis auf die Figur der Rosa Fröhlich: An ihrer Stelle war bis zuletzt eine Leerstelle. Es ist zwar einfach, das Groteske festzuhalten – Schönheit darzustellen und diesen Stil gleichzeitig einzuhalten, fand ich dagegen sehr schwer. Daher verbrachte ich kurz vor Abgabe einige Tage damit, Schauspielerinnen aus der Stummfilmzeit in meinem Stil von Fotos abzuzeichnen, um doch noch eine überzeugende Barfußtänzerin zu Papier zu bringen, die im Kontrast zu den anderen Charakteren steht.

 

Das markante Cover mit der kantigen, abstrakten Darstellung von Gymnasialprofessor Raat und Künstlerin Rosa Fröhlich kann man auch auf einer spanischen Ausgabe von El profesor Unrat (Debolsillo) entdecken – können Sie uns etwas darüber berichten, wie ‚Ihr‘ Professor Unrat nach Spanien gekommen ist?

Das war eigentlich ziemlich einfach und unspektakulär. Der spanische Verlag hatte mich in einer kurzen Nachricht über Social Media kontaktiert und gefragt, ob sie die Illustration für ihre Ausgabe benutzen dürften. Ich war natürlich sofort begeistert und habe mich gefreut, dass das Cover auch im Ausland Anklang findet. Und noch dazu zu der Zeit, als die deutsche Erstauflage schon längst vergriffen war. Die Anfrage habe ich dann damals an die Büchergilde weitergeleitet, die alles Weitere arrangiert hat. Und so gibt es jetzt sogar eine spanische Taschenbuchausgabe mit dem Büchergildecover vorne drauf (lacht).

 

Erzählen Sie uns gerne etwas über Ihre Arbeitsweise, wenn Sie ein Buch illustrieren: Was muss in einer Passage oder Szene des Buchs gegeben sein, dass Sie eine Zeichnung dazu entwerfen?  Und konstruieren Sie Ihre Illustrationen sehr bewusst, oder fließen diese eher spontan auf das Papier?

Zuerst lese ich das Buch ganz spontan, ohne große Hintergedanken, um die Handlung auf mich wirken zu lassen. Dabei entstehen meist schon erste kleine Skribbles und Notizen. Anschließend lese ich das Werk im Hinblick auf die Illustrationen ein zweites Mal, sehr bewusst, und fertige eine Liste an. Dort trage ich einzelne interessante Szenen und Beschreibungen zum Aussehen der Charaktere und Orte ein, um mich später beim Zeichnen schneller orientieren zu können. Es folgen einige Recherchen zu Zeit und Ort der Handlung sowie Skizzen zu Kleidung und Erscheinung der Personen. Dabei sammeln sich meist mehr Informationen an, als man später braucht, aber sie bilden eine gute Grundlage und Sicherheit, aus der man schöpfen kann.

Erste Skizzen zu „Professor Unrat“ von Martin Stark.
Erste Skizzen zu „Professor Unrat“ von Martin Stark.

Nach dieser ersten Phase muss man irgendwann einfach mit dem Zeichnen beginnen, ohne sich allzu viele Gedanken um das Ergebnis zu machen. Auch wenn die ersten Zeichnungen vielleicht später nicht zu gebrauchen sind, entwickelt sich doch langsam eine Gestaltungsrichtung aus ihnen heraus. Später kommt man hoffentlich in einen Arbeitsfluss, in dem die Illustrationen wie von selbst entstehen, sodass es am Schluss manchmal sogar schwerfällt, einen Abschluss zu finden. Dann ist es immer gut zu wissen, wie die erste und letzte Illustration aussehen soll – so hat man Anfang und Ende vor Augen, und damit einen Rahmen. Die Zeichnungen entstehen meist nicht in chronologischer Reihenfolge, ich hefte sie aber der Geschichte des Buchs entsprechend in einem Ordner ab, und fülle die Lücken auf, bis eine Art Rhythmus aus verschiedenen Motiven und Perspektiven entsteht.

 

2018 haben Sie Mary Shelleys Frankenstein für die Büchergilde illustriert. Der Schauerromanklassiker erschien vor mehr als 200 Jahren, seitdem gab es zahlreiche Film- und Theateradaptionen von Frankenstein, die in ihrer Gesamtheit eine prägende Bildtradition geschaffen haben. Wie haben Sie als Illustrator Ihren eigenen Zugang zu diesem Stoff gefunden? 

Bei dem Frankenstein-Projekt habe ich versucht, die Filme und vor allem Boris Karloffs ikonische Maske so gut es ging auszublenden und mich nur am Roman zu orientieren. Die einzige Ausnahme war, dass ich während der Arbeit an den Illustrationen Mel Brooks Komödie „Frankenstein Junior“ zur Entspannung schaute. Es gibt dort am Anfang eine Szene, in der Gene Wilder in einer Universität doziert. Im Hintergrund hängt ein medizinisches Schaubild, das mich zu einer der gruseligeren Illustrationen im Buch inspirierte.

Detailaufnahme der Büchergilde-Ausgabe von Frankenstein

Ursprünglich sollte die Kreatur gar nicht direkt abgebildet werden, sondern nur als bedrohlicher Umriss, Schatten oder im Ausschnitt erscheinen. Die Illustrationen sind nämlich alle primär aus dem Blickwinkel des jeweiligen Ich-Erzählers gezeichnet. Erst gegen Ende des Frankenstein-Projekts, hatte ich nur für mich eine Zeichnung mit der Visage des Unholds angefertigt, die jedoch furchtbar schlecht war, und im Ganzen eher an Eddie the Head, das Maskottchen von Iron Maiden, erinnert hat. Aber im Ausschnitt war sie schließlich doch so interessant, dass ich sie gleich zweimal im Buch verwendet habe.

Außerdem wollte ich einige Landschaften, die im Roman einen eigenen Charakter haben und das Innenleben von Viktor Frankenstein und seiner Kreatur widerspiegeln, als Kontrast zur Handlung integrieren. Ich habe hier versucht, einen Rhythmus zwischen spannenden, schaurigen und ruhigen Szenen zu finden, die die Atmosphäre des Romans einfangen.

Das Mond-Motiv in „Frankenstein“ - von der ersten Skizze zur fertigen Illustration von Martin Stark.
Das Mond-Motiv in „Frankenstein“ – von der ersten Skizze zur fertigen Illustration
Das Mond-Motiv in „Frankenstein“ - von der ersten Skizze zur fertigen Illustration von Martin Stark.
Das Mond-Motiv in „Frankenstein“ - von der ersten Skizze zur fertigen Illustration von Martin Stark.

Ihren düsteren, holzschnittartigen Schwarz-Weiß-Zeichnungen in Frankenstein merkt man die Freude am Schaurig-Gruseligen an. Was hat Sie zu der ganz besonderen, kontrastreichen Licht-Schatten-Inszenierung in Ihren Illustrationen inspiriert?

In erster Linie natürlich die alten Frankensteinfilme von James Whale oder „Nosferatu“ von F. W. Murnau, die sehr kontrastreich ausgeleuchtet waren. Auch Gemälde wie „Der Nachtmahr“ von Johann Heinrich Füssli waren eine große Inspiration. Im Gegensatz zu Professor Unrat, bei dem ich nur mit Linien gearbeitet hatte, verlangte die düstere und melancholische Atmosphäre von Frankenstein eine andere Umsetzung, sodass ich hier vorwiegend mit dunklen und hellen Flächen gearbeitet und die Personen weniger als Karikaturen angelegt habe. Außerdem ist es fast immer effektvoller, die Gestalt des Monsters nur anzudeuten und den Rest der Phantasie des Lesers oder Betrachters zu überlassen.

 

2020 haben Sie den BÜCHERGILDE BILDERBOGEN —extra— Der Ring des Nibelungen nach Richard Wagner gestaltet, der sich in seiner Form stark von Ihren beiden vorhergehenden Buchprojekten bei der Büchergilde unterscheidet. Nach den ausschließlich in schwarz-weiß gehaltenen Zeichnungen für Professor Unrat und Frankenstein, kamen beim Ring zum Beispiel goldene Farbakzente hinzu. War es das Rheingold, das Sie aus der monochromen (Farb-)Gestaltung ausbrechen ließ?

Bei Wagners Opernzyklus war es inhaltlich notwendig, Ring und Hort der Nibelungen sowie das magische Feuer und den Nornenfaden, der den Betrachter durch die Handlung führt, deutlich von den ansonsten schwarzweißen Illustrationen abzuheben – und Gold war dazu die offensichtlichste Farbe. Die Herausforderung war, alle Schlüsselszenen der einzelnen Opern auf der Vorderseite eines Bilderbogens unterzubringen, und sie so zu arrangieren, dass man ihnen leicht und ohne Text folgen kann. Dazu mussten die Figuren sehr einfach und gut wiedererkennbar gestaltet werden, da sie trotz der Größe der Bogen in der Fülle der Szenen relativ klein geraten sind – das Gold hilft dabei, einige Details besser wiederzuerkennen.

Das Rheingold. Bilderbogen und Skizze von Martin Stark.
Das Rheingold. Bilderbogen und Skizze von Martin Stark.
Das Rheingold. Bilderbogen und Skizze von Martin Stark.

Mit dem BÜCHERGILDE BILDERBOGEN —extra— haben Sie die enorme Herausforderung bravourös gemeistert, über 16 Stunden Opernstoff auf fünf Bilderbogen zu inszenieren. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie den ersten fertigen goldenen Schuber mit den von Ihnen entworfenen, großformatigen Bilderbogen in den Händen hielten?

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Die druckfrischen Bilderbogen das erste Mal aus dem Schuber zu holen und zu entfalten, war ein spannendes und besonderes Erlebnis für mich. Vor allem, da ich die Bogen während der Arbeit am Projekt nur am Computerbildschirm betrachten, und – bis auf einen einzigen Testdruck des "Rheingoldes" – vorher nie im Originalformat in den Händen halten konnte. Alle Charaktere hatte ich einzeln auf DIN A4 Papier gezeichnet, eingescannt und am Computer auf die dort gestalteten Hintergründe gesetzt, um anschließend die schwarzen Flächen zu füllen, dabei immer wieder ins Bild hinein und heraus zu zoomen. So hatte ich die Bilderbogen immer nur in Teilen betrachtet und nie nebeneinander ausgebreitet gesehen.

Frühestens beim ersten Auseinanderfalten der gedruckten Bogen konnte ich also ausmachen, dass alles so funktionierte, wie ich es im Sinn hatte. Es war toll zu sehen, wie sich die Handlung mit jedem Auffalten eines Bilderbogens immer ein Stück weiter entfaltet, bis am Schluss der Inhalt der ganzen Oper wie auf riesigen Postern vor einem liegt.

 

Lieber Martin Stark, vielen Dank für das nette Gespräch!

 

Die Fragen stellte Marie-Theres Stickel.


Der Illustrator

Martin Stark

Martin Stark wurde 1973 in Offenbach am Main geboren, wo er visuelle Kommunikation an der Hochschule für Gestaltung studiert. Für seine Illustrationen für Heinrich Manns Professor Unrat hat er 2014 den Gestalterpreis der Büchergilde und für Mary Shelleys Frankenstein 2019 den European Design Award in Gold gewonnen. 2020 erschien der BÜCHERGILDE BILDERBOGEN —extra— Der Ring des Nibelungen nach Richard Wagner mit dem Stark auf überwältigende Art den Opernzyklus auf vier großformatigen Bilderbogen illustriert.

Kurz gefragt

Träumen Sie manchmal illustriert, in Ihrem eigenen Zeichenstil? 
Nein, zum Glück noch nicht.

Wie würden Sie Ihren Zeichenstil in drei Worten selbst beschreiben?
Schwarz auf weiß.

Wenn Sie kein Illustrator geworden wären, wo würden wir Sie heute treffen?
Immer noch an der Uni?

Ihre Verbindung zur Büchergilde?
Kooperativ, anspruchsvoll, innovativ und sehr nett.


Professor Unrat Galerie

unveröffentlichter Linolschnitt
unveröffentlichter Linolschnitt
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Illustration aus „Professor Unrat“
Illustration aus „Professor Unrat“
Illustration aus „Professor Unrat“
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Illustration aus „Professor Unrat“
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Illustration aus „Professor Unrat“

Frankenstein Galerie

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„Frankenstein“ - Frontispiz
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Illustration aus „Frankenstein“

Martin Stark holt GOLD für die Büchergilde!

Martin Stark wurde bei den European Design Awards 2021 ausgezeichnet! Seine einzigartige visuelle Interpretation von Richard Wagners opus magnum im BÜCHERGILDE BILDERBOGEN –extra– prämierte die Jury mit GOLD in der Kategorie »Illustration/Book and Editorial Illustration«. Der Livestream der Preisverleihung in Valencia kann hier erneut abgerufen werden.

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