Tove Ditlevsen (1917–1976), geboren in Kopenhagen, galt lange Zeit als Schriftstellerin, die nicht in die literarischen Kreise ihrer Zeit passte. Sie stammte aus der Arbeiterklasse und schrieb offen über die Höhen und Tiefen ihres Lebens. Heute gilt sie als Vorläuferin von Autorinnen wie Annie Ernaux und Rachel Cusk. Die „Kopenhagen-Trilogie“ ist ihr zentrales Werk.
Ursel Allenstein, geboren 1978, studierte Skandinavistik und Germanistik und ist Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen von u. a. Christina Hesselholdt, Sara Stridsberg und Johan Harstad. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung.
Kindheit
/ Jugend / Abhängigkeit
von Tove Ditlevsen
Aus dem Dänischen und mit einem Nachwort von Ursel Allenstein, geprägtes Leinen mit Schutzumschlag, farbiges Vorsatzpapier, Lesebändchen, 464 Seiten, Umschlaggestaltung von Nicole Pfeiffer.
NR 172682 | € 28.00
Die Geschichte einer Befreiung und das eindringliche Porträt einer ebenso verletzlichen wie souveränen und eigenständigen Frau.
Unsere Partnerbuchhändlerin Maria-Christina Piwowarski, Leiterin der Buchhandlung ocelot in Berlin, hat unter dem Hashtag #tovelesen einen regelrechten #tovehype auf Instagram losgetreten: Unter dem Motto "Frauen erzählen Geschichten anders" feierte sie online die (Wieder-)Entdeckung von Tove Ditlevsen. Mit ihren FollowerInnen traf sich Piwowarski zu verschiedenen Leserunden und Buchbesprechungen im Livestream und ermunterte die deutsche Bookstagram Community zum #tovelesen. Unter diesem Hashtag finden sich mittlerweile mehr als 500 Beiträge, in denen sich LeserInnen mit Tove Ditlevsen und ihrem Werk beschäftigen, ein wunderbarer Buchhype!
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Unsere Büchergilde Botschafterin Ursula @lese_verliebt über ihre Erfahrungen mit #tovelesen: |
Liebe Ursula, als sehr aktives Mitglied der Bookstagram Community warst Du auch Teil der Bewegung #tovelesen. Wie war es für Dich, die (Wieder-)Entdeckung der Autorin online mitzuerleben?
Es war großartig! Ich bin durch die Aktion mit
Maria-Christina Piwowarski auf die Bücher aufmerksam geworden, habe dann
mitgelesen, gespannt alles verfolgt und mir die tollen Gespräche, zum Beispiel
mit Übersetzerin Ursel Allenstein, angesehen. Über den Hashtag #tovelesen
konnte ich mich zudem mit vielen weiteren begeisterten LeserInnen austauschen.
Auch ein halbes Jahr nach der Aktion gibt es immer noch viele LeserInnen, die
über #tovelesen neu inspiriert werden!
Ist Tove Ditlevsen diesen Hype wert?
Auf jeden Fall! Ich finde, dass Autorinnen sowieso zu wenig
Aufmerksamkeit bekommen. Deswegen freue ich mich immer, wenn Autorinnen (wieder-)entdeckt
werden – so ein Hype kommt dann gerade recht. Tove Ditlevsen beschreibt sehr
eindrucksvoll, wie sie in einem ärmlichen Arbeiterhaushalt in den 1920er Jahren
aufgewachsen ist und es trotzdem geschafft hat, Schriftstellerin zu werden. Mit
ihrem autofiktionalen Schreiben hat sie zudem den Weg für andere Schriftstellerinnen
wie Annie Ernaux oder Rachel Cusk geebnet. Ich hoffe, dass noch viele weitere
LeserInnen Tove Ditlevsen (wieder)entdecken werden!
von Annie Ernaux
Aus dem Französischen von Sonja Finck, Leinen mit Schutzumschlag, Lesebändchen, Umschlaggestaltung von Moni Port.
NR 170965 | € 18.00
Ein schonungsloser, nachdenklicher Blick auf die eigene Scham und das jahrelange Unvermögen, darüber sprechen zu können.
von Annet Mooij
Aus dem Niederländischen von Gerd Busse, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Leinen mit Schutzumschlag, Umschlaggestaltung von Clara Scheffler.
NR 171635 | € 34.00
Gisèle van Waterschoot van der Gracht (1912–2013) war eine Jahrhundertgestalt: Sie war Malerin und Mäzenin, hatte unzählige Affären, war befreundet mit Aldous Huxley und Partygast bei Lion Feuchtwanger, Max Beckmann verhalf sie zur Emigration in die USA. Mit großer Präzision rekonstruiert Annet Mooij ein bewegtes und faszinierendes europäisches Leben.
von Bernardine Evaristo
Aus dem Englischen von Tanja Handels, fester Einband, 512 Seiten, Einbandgestaltung von Moni Port.
NR 172844 | € 24.00
Auch wenn diese Frauen, ihre Rollen und Lebensgeschichten sehr unterschiedlich sind, ihre Entscheidungen, ihre Kämpfe, ihre Fragen erzählen alle von dem Wunsch, einen Platz in dieser Welt zu finden.
Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie – in einem Band bei der Büchergilde.
Groß waren die Vorschusslorbeeren, bevor Tove Ditlevsens "Kopenhagen-Trilogie" erstmals in vollständiger deutscher Übersetzung erschienen ist – immerhin hat Ditlevsen nicht nur in ihrer Heimat Dänemark den Status als Kultautorin. Ihre großartigen Bücher Kindheit, Jugend und Abhängigkeit beweisen: Das Lob ist mehr als berechtigt.
Die "Kopenhagen-Trilogie" ist die Geschichte einer Befreiung und das eindringliche Porträt einer ebenso verletzlichen wie souveränen und eigenständigen Frau. Bei der Büchergilde erscheinen nun alle drei Bücher erstmals in einem Band.
„Bild dir bloß nichts ein. Ein Mädchen kann nicht Dichter werden.“ Harte Worte, die Tove Ditlevsens Alter Ego von ihrem Vater zu hören bekommt, als sie ihm als Zehnjährige begeistert von ihrem Berufswunsch erzählt. Da hatte sie heimlich schon einige Gedichte geschrieben – mit einem klaren Gefühl für Sprache. Doch diese Fähigkeiten zählen nicht im Arbeitermilieu der 1920er-Jahre, in dem sie aufwächst. Die Eltern sind nicht hartherzig, aber gefangen in den Konventionen der damaligen Zeit. Mit aller Kraft versuchen sie, ihre Armut nach außen hin zu vertuschen und Tove die Illusionen von einem selbstbestimmten Leben zu nehmen. Du musst lernen zu kochen und einen Haushalt zu führen, heißt es, und: Suche dir lieber schnell einen Mann, der dich versorgen kann.
Wie Tove Ditlevsen mit den Anforderungen der Gesellschaft und ihren eigenen Träumen letztendlich umgegangen ist, hat sie zwischen 1967 und 1971 aufgeschrieben. Kindheit, Jugend und Abhängigkeit heißen die drei Bücher ihrer „Kopenhagen-Trilogie“, die nun von Ursel Allenstein ins Deutsche übertragen wurden, die beiden letzten Bände sogar erstmalig.
„Die meisten Erwachsenen behaupten, sie hätten eine glückliche Kindheit gehabt, und vielleicht glauben sie das wirklich, aber ich tue es nicht. Ich glaube, es ist ihnen lediglich gelungen, sie zu vergessen.“
Aus: Kindheit / Jugend / Abhängigkeit
Tove Ditlevsens Sprache ist klar und geradlinig; schonungslos ehrlich berichtet sie von ihrer Kindheit, die sich für sie wie eine schlecht sitzende Haut anfühlte, die es abzustreifen galt, legt ihre Charakterschwächen und Fehltritte offen. Ditlevsen erzählt von ihrer hart erkämpften Loslösung vom Elternhaus, ersten Männergeschichten, und dem Wunsch nach „einem Zimmer für sich allein“, um in Ruhe schreiben zu können. Der dritte Band schildert ihre Jahre als erwachsene Frau und bekannte Schriftstellerin: Drei kurze Ehen hintereinander, Abtreibungen und Schwangerschaften, und das alles unter dem Druck, sich gleichzeitig in der Literaturwelt zu beweisen. Um das aushalten zu können, greift sie immer häufiger zu Schmerzmitteln, wird später sogar in eine Entzugsklinik eingewiesen. Die Sucht bleibt ihr ständiger Begleiter.
Auch wenn sich die Erlebnisse der Erzählfigur nahezu bruchlos auf biografische Details der Autorin zurückführen lassen, bewahrt Tove Ditlevsen bewusst die Distanz zwischen sich und ihren Texten. Dass die erzählende Tove nicht wie die Autorin 1917, sondern ein Jahr später geboren wurde, setzt den notwendigen Rahmen für die Form der Autofiktion, die reale biografische Ereignisse mit erfundenen vermischt.
Tove Ditlevsen hat eine zeitlose Frauenfigur erschaffen, die immer wieder selbstbewusst ihre Stimme erhebt und trotz teilweise massiver Widerstände ihren eigenen Weg verfolgt. Am Ende der drei Bände fühlt man sich, als hätte man ein langes Gespräch mit einer engen Freundin geführt, der man unbedingt helfen möchte. Und es doch nicht kann: 1976 nahm sich Tove Ditlevsen mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. Ihre Texte aber haben sie unsterblich gemacht.
Von Julia Schmitz
"Damals hatten wir schon das richtige Gespür" – Ditlevsen und die Büchergilde
Die aktuelle Ausgabe der Büchergilde versammelt die "Kopenhagen-Trilogie" erstmalig in einem Band. Doch dies nicht ist der erste Roman von Tove Ditlevsen, der bei der Büchergilde erscheint.
Bereits 1962 brachte die Büchergilde die deutsche Erstausgabe des Romans Straße der Kindheit heraus, den Tove Ditlevsen 1943 als junge Frau in Dänemark veröffentlichte. Ähnlich wie in ihrer "Kopenhagen-Trilogie" beschreibt Ditlevsen darin das Leben eines dänischen Mädchens in drei Teilen und greift zentrale gesellschaftliche Themen wie Herkunft, Klasse, Einsamkeit sowie typische Aspekte weiblichen Lebens ihrer Zeit auf.
In Straße der Kindheit schreibt Ditlevsen mit einer noch größeren Distanz zur eigenen Biografie – beispielsweise entwickelt sich nicht die weibliche Hauptfigur Ester, sondern der Bruder Carl zum Schriftsteller und Stolz der Familie. Und obwohl Straße der Kindheit eine ähnliche Rahmenhandlung wie die "Kopenhagen-Trilogie" aufweist, ist so insbesondere ihre Auseinandersetzung mit dem Thema des weiblichen Schriftstellerinnentums eine andere: Die "Kopenhagen-Trilogie" verfasste Ditlevsen retrospektiv im Alter von 50 Jahren – und in dem Wissen, eine erfolgreiche Schriftstellerin zu sein.
Anmerkung: Die Büchergilde-Ausgabe des Romans Straße der Kindheit von 1962 ist schon lange vergriffen und die Rechte zurückgefallen. Eine Neuauflage ist
nicht geplant.
Interview mit Corinna Santa Cruz aus dem Lektorat der Büchergilde – Über Tove Ditlevsens meisterhafte, eindringliche Sprache und was es für die Büchergilde eigentlich bedeutet, nach sechs Jahrzehnten wieder einen Titel von Tove Ditlevsen im Programm zu haben.
Liebe Corinna Santa Cruz, wie ist es für die Büchergilde, nach 60 Jahren wieder einen Titel – oder gleich drei in einem Band – von Tove Ditlevsen zu verlegen?
Wir freuen uns, dass wir die Autorin schon so früh und noch zu ihren
Lebzeiten entdeckt haben. Damals hatten wir schon das richtige Gespür, und
inzwischen ist die Autorin weltweit zur Klassikerin geworden. Wir schließen mit
der Kopenhagen-Trilogie an den damaligen Erfolg unserer Ausgabe an. Es zeigt,
dass manche Bücher alterslos sind und Leserinnen und Leser immer von neuem auf
die eine oder Weise ansprechen.
Wem würden Sie eine Lektüre von Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie empfehlen?
Die Themen kennen wir alle: Suche nach Anerkennung, Einsamkeit, innere Konflikte und gleichzeitig der Wille, das Leben selbst zu gestalten. Kurze Antwort also: Jeder und vor allem jedem!
Gibt es etwas, das Sie an der Autorin besonders fasziniert hat?
Tove Ditlevsens präzise Sprache hat mich begeistert, die eindringlichen Metaphern, der schonungslose Einblick in ihre Seele: Das ist meisterhaft. Wie die Erfahrungen der Kindheit sich fortsetzen im Jugend- und Erwachsenenalter habe ich selten so gebannt gelesen. Ein Beispiel aus Kindheit:
„Dunkel ist die Kindheit, und sie winselt wie ein kleines Tier, das man
in einen Keller eingesperrt und vergessen hat. Sie bildet eine Wolke vor dem
Gesicht wie kalter Atem, und mal ist sie zu klein, mal zu groß.“
Nach einem solchen Satz muss man erst mal innehalten, nachdenken, nachspüren. Das schafft nur große Literatur. Ein Kompliment auch an die Übersetzerin Ursel Allenstein!