REISEREPORTAGE


Der Schneeleopard von Sylvain Tesson

 

auf den Spuren der letzten Schneeleoparden in Tibet

Der Schneeleopard von Sylvain Tesson

 

Eine seltene Großkatze, atemberaubende Panoramen, ewiges Eis. Für sein Buch Der Schneeleopard hat Sylvain Tesson den Wildtierfotografen Vincent Munier nach Tibet begleitet und vermittelt einen wunderbaren Eindruck davon, was es bedeutet, tagelang im Schnee zu liegen und der ungewissen Begegnung mit einem Tier entgegenzufiebern.

 

 

Von Lukas Morgenstern

Wo man bei –20 °C Höchsttemperatur schon von einem milden Wintertag spricht, ist eine Übernachtung im Zelt sicher nicht jedermanns Sache. Hat man sich aber einmal der Suche nach einem der seltensten und scheuesten Tiere unseres Planeten verschrieben, kommt man nicht umhin, die Zentralheizung gegen einen dicken Schlafsack und frisch gekochtes Essen gegen gefriergetrocknete Suppen einzutauschen. In diesem Fall ist das scheue Tier, wie der Titel des Buches schon verrät, der Schneeleopard, und der Suche nach ihm verschrieben hat sich der Wildtierfotograf Vincent Munier. Reiseschriftsteller Sylvain Tesson hat ihn auf seiner Expedition ins winterliche Tibet begleitet und erzählt davon in Der Schneeleopard.

 

Tesson lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass die Suche nach Schneeleoparden in besonderem Maße erfordert, was heute unter dem Namen „Erwartungsmanagement“ geführt wird, um nicht bereits nach wenigen strapaziösen Tagen aufgeben zu wollen. Versuche anderer Gruppen wurden nach monatelangem Ausharren in eisigen Hochgebirgslagern abgebrochen – und das, ohne eine Schwanzspitze erspäht zu haben. Der Autor beschreibt eindrücklich die widrigen Voraussetzungen der Unternehmung: Wie die vier Mitglieder von Muniers Team auf der Reise in die entlegenen Gebiete, in denen die seltenen Leoparden noch leben, Zeugen der Expansion Chinas und des industriellen Menschen im Himalaya werden. Dass Städte, Brücken, Straßen und Bahntrassen in kürzester Zeit aus dem eisigen Boden gestampft werden und nicht nur die Lebensräume der Tiere, sondern auch der indigenen nomadischen BewohnerInnen dieser kargen Landschaft vernichten. Doch reine Infrastrukturprojekte sind nicht das einzige Problem: Um den zahlreichen Wilderern keine Hinweise auf die Anwesenheit der Schneeleoparden zu geben, bleibt Tesson in seinen Ortsschilderungen bewusst wage. Es bleibt die Frage, ob die Suche überhaupt von Erfolg gekrönt sein kann.

„Für Gegensätzliches ein ähnliches Wort benutzen verschafft dem Leid der Welt keine Linderung.“

Aus: Der Schneeleopard

Doch dann bewegt sich etwas hinter einem Felsen auf der anderen Seite des Tals. Alle Gedanken sind wie weggeblasen, ist er es, der Schneeleopard? Der Fotograf Munier bewundert jedes Tier, das vor seine Linse tritt. Der Autor Tesson arbeitet an seinem Erwartungsmanagement. Und wir dürfen daran teilhaben. Vielleicht erspähen wir den Leoparden ja morgen? Die Spannung ist greifbar, und das, ganz ohne im Schlafsack übernachten zu müssen.

 

Tagelanges Warten in zugigen Lehmhütten und auf eisigen Gletschern bei absolutem Sprechverbot, um etwaige Tiere in der Nähe nicht zu verschrecken, liefern Tesson vor allem eins: Zeit, um nachzudenken. Über Mensch und Natur, das Dao und Aristoteles, Nietzsche und verflossene Liebschaften, die eigene Mutter, die Wissenschaft, die Sprache, die Kunst. Frei assoziierte Gedanken zwar, die aber nie wahllos wirken, vielmehr Leserinnen und Leser auf die Spuren der großen Philosophien der Menschheitsgeschichte bringen. Und auf die bedeutendste Frage unserer Zeit: wie wir unseren Planeten retten können – oder ob es vielleicht schon zu spät ist.