Ángel Santiesteban, geboren 1966 in Havanna, Kuba, war jahrelang der gefeierte Autor seiner Generation und wurde mit allen wichtigen nationalen Literaturpreisen ausgezeichnet. Als er einen regimekritischen Blog veröffentlichte, wurde er in einem politischen Prozess zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. 2015 wurde er auf internationalen Druck freigelassen. Im Juli 2021 nahm er an den Protesten gegen die Regierungspolitik teil und lebt seitdem an unterschiedlichen Orten. Santiestebans Texte werden in Kuba seit vielen Jahren nicht mehr publiziert. Zuletzt auf Deutsch erschien sein hoch gelobter Erzählungsband Wölfe in der Nacht (2017).
Thomas Brovot übersetzt aus dem Spanischen, Französischen und Englischen (u. a. Werke von Mario Vargas Llosa, Federico García Lorca, André Aciman, Jean-Baptiste Andrea) und lebt in Berlin. Seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Paul-Celan-Preis.
Weltweite Erstausgabe
Stadt
aus Sand.
Büchergilde Weltempfänger,
Band 8
Ángel
Santiesteban
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot, mit einem Nachwort von Paul Ingendaay,
Flexcover, Kopffarbschnitt, Lesebändchen, 256 Seiten.
Erscheint in Zusammenarbeit mit Litprom e. V.
NR 173670 | € 22.00
Ungeschönt wie kaum ein anderer kubanischer Autor, mal parabelhaft, mal schmerzhaft realistisch, erzählt Ángel Santiesteban vom Überlebenskampf auf der Karibikinsel. Auf Sand gebaut sind die Träume der jungen Frauen vom Land, die in Havanna gestrandet sind. Ein Mann errichtet eine Schiffsanlegestelle in der Ödnis, kein Wasser weit und breit – warum, dasweiß nur er selbst. Der Comandante leidet unter Diarrhoe: Hüte sich, wer in seiner Nähe ist! Das Leben als Drahtseilakt, denn alles kann das Missfallen des Regimes erregen. Aber wer sich anpasst, hat noch lange nichts gewonnen – auch das eine Erkenntnis aus diesen meisterhaften Storys, die hier weltweit zum ersten Mal veröffentlicht werden.
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In Kuba werden die Texte des einstmals gefeierten Autors Ángel Santiesteban nicht mehr publiziert. Mit seinen klugen Erzählungen zerlegt er die überromantisierten Havanna-Bilder und tritt den Machthabern auf die Füße. Bei der Büchergilde erscheint mit Stadt aus Sand nun eine Kompilation seiner neuesten, weltweit bisher unveröffentlichten Storys.
Ángel Santiesteban, 1966 in Havanna geboren, wurde als Autodidakt zum Schriftsteller und gilt als literarisches Ausnahmetalent. Für seine ersten Erzählbände erhielt er alle begehrten Literaturpreise Kubas, die auch mit einer gewissen Geldsumme verbunden sind und das Recht auf den Druck implizieren – bei dem chronischen Papiermangel im Land eine immense Freude. Allerdings wurden seine Texte immer argwöhnisch begutachtet, die Zensoren waren stets wachsam. Der exilierte kubanische Schriftsteller Abilio Estévez schildert, welchem Druck er 1992 als Jurymitglied ausgesetzt wurde, als die Jury der renommiertesten Kulturinstitution, der Casa de las Américas, über den nächsten Preisträger beriet:
„Die politische Polizei verlangte von mir, dafür zu sorgen, dass der Preis nicht Ángel Santiesteban, 13. Grad südlicher Breite zugesprochen wurde. Literarische Argumente galten nicht. (...) Ángel Santiesteban durfte diesen Preis nicht gewinnen. Und er hat ihn auch nicht gewonnen. (...) Es war das mit Abstand beste Buch unter den Bewerbungen.“
Das Thema dieser „problematischen“ Erzählung war der kubanische Einsatz im Angolakrieg, und darüber durfte nicht offen gesprochen werden. Denn die Soldaten befanden sich, so die offizielle Staatsdoktrin, in einem heldenhaften und gerechten Krieg für die Freiheit Angolas. Kritik war nicht erlaubt. Der Autor hatte viele Erzählungen heimkehrender Kämpfer gehört und wusste, dass die Realität anders aussah, als es die Staatsmedien verkündeten. Später publizierte er weitere Texte über diesen Krieg, der so viele Tote forderte, beschrieb die oft unerträgliche Gewalt, die Verzweiflung und das Heimweh.
Doch Santiestebans erstes literarisches Thema reicht weiter zurück: bis zu seinen frühen Erfahrungen im Gefängnis. Als seine ältere Schwester den Versuch unternahm, mit einem kleinen Boot nach Miami zu fliehen, trug der damals Siebzehnjährige ihren Rucksack zum Anlegeplatz. Der Versuch misslang, die Schwester wurde für fünf Jahre inhaftiert – und die Polizei holte Ángel von der Schule ab. Obwohl minderjährig, und damit entgegen dem Gesetz, kam er als „Fluchthelfer“ in die jahrhundertealte Festung La Cabaña in Havanna, damals ein feuchtkaltes Gefängnis. Vierzehn Monate verbrachte er in diesem Kerker, „eine Schule fürs Leben“, sollte er später darüber sagen. Daher verwundert es nicht, dass viele von Santiestebans Texten von Willkür, Despotismus, Prügel, miserabler Ernährung oder menschenunwürdigen Strafzellen handeln. Jeder mögliche Widerstand der Gefangenen soll gebrochen werden, Rechtsbeistand ist eine Farce, Gerechtigkeit eine Illusion.
In den 1980er-Jahren versuchten Zigtausende Kubaner zu fliehen, denn die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich kontinuierlich, die ohnehin eingeschränkten persönlichen Freiheiten schwanden. Nach dem Fall der Berliner Mauer wurde alles noch schlimmer, ja dramatisch. Die „solidarischen“ Handelsbeziehungen mit den Ex-Ostblockstaaten entfielen, Kuba war plötzlich auf sich selbst gestellt und darauf nicht vorbereitet. Die Regierung konnte die Ernährung nicht mehr sichern, die Menschen hungerten.
Ángel Santiesteban entwickelte sich mehr und mehr zum Rebellen: Ab 2008 schrieb er unter dem Titel Die Kinder, die niemand wollte einen Blog, in dem er das System scharf kritisierte. Seitdem gilt er als gefährlicher Dissident, als Outsider und Oppositioneller und steht unter der kontinuierlichen Beobachtung des Staatsapparats. Physische und psychische Drohungen häuften sich, er solle den – im In- und Ausland viel gelesenen – Blog einstellen, sonst sei seine Sicherheit nicht gewährleistet.
Fünf Jahre später wurde Santiesteban nach einem fadenscheinigen Prozess zu fünf Jahren Haft verurteilt. Man zwang selbst seinen minderjährigen Sohn, gegen ihn auszusagen, seine Exfrau machte eindeutige Falschaussagen. Da er sich weigerte, die „Schuld“ anzuerkennen, kam er in eines der berüchtigtsten Gefängnisse der Insel, das Valle Grande. Er trat in Hungerstreik, wurde zwangsernährt, kam in Einzelhaft. Diese Erfahrungen verarbeitet er später zu Literatur, wie in seiner Erzählung Trautes Heim.
Inzwischen setzte sich die internationale Öffentlichkeit für ihn ein: Das Writers in Prison Committee des internationalen PEN verlangte seine Freilassung, Reporter ohne Grenzen nahm ihn 2014 in die Liste der „100 Helden der Pressefreiheit“ auf. Als Frank-Walter Steinmeier Mitte Juli 2015 nach Kuba reiste, stand auch Santiestebans Name auf einer Liste mit Namen von Menschen, für deren Freilassung sich der damalige deutsche Außenminister einsetzte.
Mit Erfolg: Nach mehr als zwei Jahren Haft wurde Santiesteban auf Bewährung entlassen, er durfte Kuba aber bis zur Beendigung der eigentlichen Haftstrafe nicht verlassen. 2018 war er Gast beim Internationalen Literaturfestival in Berlin, ein Jahr zuvor war seine Anthologie Wölfe in der Nacht auf Deutsch erschienen – mit vielen erstmals veröffentlichten Geschichten, denn seit 2008 werden seine Texte nicht mehr in Kuba publiziert. 2020 erhielt Santiesteban den Disturbing the Peace Award der Vaclav Havel Library Foundation, den er den politischen Häftlingen Kubas widmete.
Ángel Santiesteban schreibt unbeirrt und offensichtlich angstfrei weiter. Aus der Fülle der nicht publizierten Erzählungen wurde der Band Stadt aus Sand zusammengestellt: dreizehn neue Storys, überwiegend aus den letzten Jahren. Sie thematisieren voller sprachlicher Schönheit, aber illusionslos das Leben auf der Insel, ohne tropisches Flair, Oldtimer-Romantik oder mitreißende Salsa. Geschildert wird zum Beispiel die grassierende Prostitution: Wenn junge Mädchen ausreichend essen möchten, und vielleicht etwas Luxus wünschen, oder wenn das Gehalt einfach nicht ausreicht – ein ganzer Industriezweig ist so entstanden („Stadt aus Sand“). Bestimmt ist es ratsam, die eigene Familiengeschichte und den ehemaligen Reichtum zu verheimlichen, um als ausreichend ‚revolutionär‘ zu gelten („Der Äquilibrist“). Absurde Situation zuhauf („Das Skelett des Herrn Morales“, „Selbstmordwalzer“), und so manches Mal findet sich der Protagonist entweder in der Psychiatrie wieder oder im Knast. Es gibt unerfüllte Träume und aberwitzige Beschäftigungen, um der Monotonie des Lebens etwas entgegenzusetzen („Der Blick in den Dunst“).
Es sind ironische, verspielte, spöttische und immer wieder verstörende Texte. Beim Lesen steigt oft die Angst hoch: Was wird passieren, hat der Autor das selbst erlebt, wie entkommt man einer kafkaesken Situation, die der Betroffene nicht versteht, weil er sich keiner Verfehlung bewusst ist („Richelieus Männer“)? Paranoia, wechselseitiges Misstrauen und Verrat sind allgegenwärtig und prägen den Alltag („Dolce Vita“). Wie es um die proklamierte Gleichheit Menschen aller Hautfarben steht, erfahren wir in „Die Hand Gottes“. Und welche Verheerungen ein Hurrikan anrichten kann, lässt sich staunend nachlesen in „Der Tod im Spiegel“. Ein Happy End sucht man in diesen Texten vergeblich, nicht einmal ein versöhnlicher Ausgang ist in Sicht, denn die Situation auf der Insel ist schlimm, und der Autor zeigt sie ungeschönt. Er lässt sich nicht einschüchtern, schließlich kennt er die Gefängnisse gut genug. Bezwingt er die Machthaber mit seiner Gedankenfreiheit? Davor fürchten sich alle totalitären Regime, deshalb verbieten oder verbrennen sie Bücher.
Dieses Kaleidoskop ist eine Einladung, das wenig bekannte Land durch faszinierende, packende Erzählungen besser kennenzulernen und einen Blick hinter den scheinbaren Charme der Dekadenz zu werfen.
Michi Strausfeld
ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, Buchautorin und Literaturvermittlerin und gilt als eine der besten Kennerinnen spanisch-sprachiger Literatur weltweit. Mit Ángel Santiesteban verbindet sie eine langjährige Freundschaft, er hat ihr sein Buch gewidmet. Zuletzt erschien von ihr im Wagenbach Verlag das Buch Barcelona. Eine literarische Einladung.