Büchergilde Klassiker

 

Ein ganzes Leben in einer Nacht

 

Als letztes Buch zu Lebzeiten veröffentlichte Erich Maria Remarque im Jahr 1962 Die Nacht von Lissabon. Es ist ein ergreifender Roman über Liebe, Verlust, Angst — und gegen den Krieg.

Ein Beitrag von Julia Schmitz.

 

 

Für die meisten Deutschen ist es kaum vorstellbar, und doch stellen sich aktuell viele die Frage: Was bedeutet es, vor einem Krieg fliehen und in einem fremden Land Zuflucht suchen zu müssen? Was macht man, wenn die Grenzen geschlossen sind? Hunderttausende Menschen haben seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine Ende Februar ihr Heimatland verlassen, oftmals nur mit den nötigsten Dingen im Rucksack und der Ungewissheit, wann sie zurückkehren können – und ob es ihnen überhaupt jemals möglich sein wird.

 

Krieg, Flucht und Exil werden auch in der Literatur seit jeher thematisiert. Der Erzähler in Erich Maria Remarques vorletztem Roman Die Nacht von Lissabon kennt sich damit gezwungenermaßen gut aus. Bereits Jahre vor Beginn der Handlung hat er Deutschland verlassen, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Nach längerem Aufenthalt in Frankreich ist er nun, es ist 1942, in Lissabon gelandet, von wo aus in den nächsten Tagen ein Schiff in die USA auslaufen soll. Doch das ist seit Langem voll belegt, außerdem haben er und seine Frau kein Visum für die Einreise in Amerika und auch ihre Aufenthaltsgenehmigung für Portugal läuft demnächst aus. Die Lage scheint aussichtslos.

„Mein Vaterland hat mich wider meinen Willen zum Weltbürger gemacht. Nun muss ich es bleiben. Zurück kann man nie.“
Aus: Die Nacht von Lissabon von Erich Maria Remarque

 

Da begegnet er eines Abends am Hafen einem Mann, der ihm zwei Tickets für das begehrte Schiff anbietet – unter der Bedingung, dass er ihm seine Lebensgeschichte erzählen darf. Ein Angebot, das der Erzähler nicht ausschlagen kann. Und so erfährt er in den kommenden Stunden, wie der unbekannte Mann, der sich Josef Schwarz nennt, den fast schon klassischen Weg eines Emigranten durchlaufen hat. Auch er hat Traumata aus einem Konzentrationslager in Deutschland und dem Internierungslager im besetzten Paris davongetragen, auch er musste illegal arbeiten und bei den Ämtern anstehen, um in der Fremde zu überleben. Seinen Pass, den er jetzt ebenfalls an den Erzähler weitergeben will, übernahm er von einem verstorbenen Kunsthändler.

 

Es ist eine dieser Schicksalsgemeinschaften auf Zeit mit Menschen, die man nie wiedersehen wird, welche die beiden für eine Nacht eingehen. Wo Schwarz die Worte fehlen, weiß der Erzähler, was gemeint ist. Er kann nachvollziehen, dass sein Gegenüber sich in größte Gefahr begeben hat, um nach Jahren der Trennung seine Frau Helen in Osnabrück wiederzusehen und mit ihr über die Grenze nach Frankreich zu fliehen. Und wer könnte nicht verstehen, dass er nun mit dem Tod Helens auch jeglichen Lebenswillen begraben hat?

Erich Maria Remarque, der 1929 mit dem Roman Im Westen nichts Neues schlagartig berühmt wurde, geriet früh ins Visier der Nationalsozialisten, die seine Bücher als „entartet“ verbrannten; 1938 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Da wohnte Remarque bereits in der Schweiz, Deutschland hatte er direkt am 31. Januar 1933, einen Tag nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, den Rücken gekehrt. Ab 1939 lebte er in den USA und ging auch nach dem Krieg nicht in sein einstiges Heimatland zurück.

 

Die emotionalen Verletzungen, die durch Flucht und Vertreibung entstanden waren, waren 1962, als er Die Nacht von Lissabon schrieb, offenkundig noch nicht verheilt. So verhandelt der Autor in dem Roman nichts weniger als die großen Topoi von Liebe, Verlust, Verrat, Angst und Tod, in die man als LeserIn wie in einen Strudel hineingesogen wird. Der Mensch kann zum rücksichtslosen Tier werden, wenn es darum geht, seine eigene Haut zu retten – das galt damals wie heute und löst den Text bisweilen aus den konkreten Zeitläuften heraus.

 

Inmitten dieser düsteren Endzeitstimmung und der inneren Not, die die Exilanten von Lissabon durchleben, schimmert trotz allem Überlebenskampf immer wieder Mitmenschlichkeit durch. Denn Erich Maria Remarque wusste: Die Hoffnung stirbt zuletzt, auch wenn es kaum noch welche gibt.

„Auf der Flucht und in Verzweiflung und Gefahr lernt man, an Wunder zu glauben; sonst würde man nicht überleben.“
Aus: Die Nacht von Lissabon von Erich Maria Remarque