Ein Türke wird im Frankfurter Bahnhofsviertel
erstochen. Ein Fall für die Polizei, doch die ermittelt nicht. Stattdessen
tritt ein privater Ermittler auf den Plan, engagiert von der Ehefrau des
Opfers. So weit, so realitätsnah?
Von Lisa-Marie Schöttler
Manches Fotomotiv von Ulrich Mattner erkennen wir
wieder und fühlen uns an Arjounis Happy birthday, Türke! erinnert. Ein
Kriminalroman, der in den frühen 80er-Jahren spielt und schnell zum Erfolg
wurde, auch wegen des ganz eigenen Lokalkolorits. Will man sich in diese Zeit
zurückversetzen und einen Blick auf Nachtleben und Nachtschwärmer werfen, sind
Ulrich Mattners Fotografien das Medium der Wahl. Zwei Bildbände zum Milieu sind
von ihm bereits erschienen. Beim Selbstversuch an einem Dienstag im November
ist es – entgegen unseren Erwartungen – ruhig auf der Taunusstraße. Wir stehen
gemeinsam mit Philip Waechter ein wenig verloren zwischen City Kiosk und Spielhölle.
Aus dem Sexkino an der Ecke Weserstraße tritt ein dunkelgrauer Anzug – Banker, Versicherungsvertreter,
Außendienstler. Bedrohlich wirken höchstens die tief fliegenden Tauben, aber
von Auseinandersetzungen oder gar Waffen ist weit und breit keine Spur. Haben sich
schlicht die Zeiten geändert? Hat hier jemand ordentlich aufgeräumt und mit der
Kehrmaschine nicht nur den Müll der vergangenen Nacht, sondern auch die
Kleinkriminellen und Rotlichtgrößen weggefegt? Oder malte Arjouni in seinem
Kriminalroman Happy birthday, Türke! die Gegend um Elbe-, Mosel- und Niddastraße
bewusst tiefschwarz?
Klar ist: Der Autor bediente Klischees, und er bediente sie gerne, aber mit
ebenso großer Freude brach er mit ihnen. So zum Beispiel mit seinem hessisch
babbelnden Kayankaya, der bei einer gemütlichen Adoptivfamilie aufgewachsen ist
und die Packer am Bahnhof unter Einsatz seines Dialekts dazu bewegt, mit Informationen
rauszurücken. Philip Waechter hat dem Privatermittler mit seiner Illustration
ein unverwechselbares Gesicht gegeben. Nicht immer hat der Künstler schon zu
Beginn vor Augen, wie der Protagonist eines Buches am Ende aussehen soll. Auch
bei Arjounis Ermittler gab es unterschiedliche Ansätze. Das verrät uns ein
Blick in die ersten Skizzen, die Waechter mit seinem japanischen Tuschestift
angefertigt hat. Mal mit wenig Bart und wenigen Kanten, mal etwas beleibter,
mal schlanker kommt Kayankaya daher. In der finalen Version ist er ein echter
Charaktertyp – und damit wie gemacht für den Krimi mit Kultstatus. Überhaupt
hatte Waechter beim Lesen das Gefühl, dass Arjouni seine Charaktere ganz genau
kennt, dass es reale Vorbilder für sie gegeben haben könnte, dass ihre Dialoge
nicht ohne Grund so echt und ehrlich daherkommen.
In einem anderen Punkt musste Philip Waechter nicht lange überlegen: Reduziert sollten
die Farben des Romans sein (mehr zum Buch auf Seite 50). Vielleicht auch als
Kontrast zum doch sehr derben, knalligen Inhalt. Er hat sich ausprobiert, dem Buch
mal einen eher gelblichen, mal einen bläulichen Ton hinzugefügt. Bald stand jedoch
fest: Die Milieufarben eignen sich am besten. Und so tauchte er Hanna Hecht und
andere in eine ganze Palette von Rottönen. Ebenso wie die Beleuchtung in einem
der Puffs im Roman alles in lilafarbenes Licht taucht – auch die Menschen.
Aufgewachsen zwischen Nordend und Westend mit Abstechern in die alte Batschkapp
und das Waldstadion, hat Philip Waechter nur wenige Erinnerungen an das
Viertel, das Arjouni zum Schauplatz seiner dreckiglauten und humorvollen
Geschichte machte. An das Moseleck erinnert er sich jedoch und ist überrascht, dass
es immer noch existiert. Ansonsten hat er diese Ecke seiner Heimatstadt eher
gemieden. Es war eine Parallelwelt, an der er sich nicht beteiligen wollte.
Besonders die frühere Taunusanlage ganz in der Hand von Drogenabhängigen und
Dealern hat er aber immer noch klar vor Augen. Er habe sich „nie wahnsinnig
wohlgefühlt, aber bedrohlich war es auch nicht“. Durch die Druckräume hat sich
das Bild auf den Straßen deutlich gewandelt. 1994 öffnete der erste im Ostend,
in den folgenden Jahren entstanden weitere, unter anderem in der Nidda- und der
Elbestraße. Seitdem hält sich der offene Konsum auf den Straßen in Grenzen. Probleme
mit Dealern im Viertel werden immer seltener von der lokalen Presse
aufgegriffen.
Aus der Ferne beobachten wir zwei Damen, die sich bereits mittags vor einem Tabledance-Club positioniert haben. Ob als Türsteherinnen oder doch eher Animierdame lässt sich auf den ersten Blick nicht sicher sagen. Beide tragen dicke Daunenjacken und sind am Laufpublikum eher mäßig interessiert. Das Wetter am heutigen Tag erinnert ein wenig an die Verfilmung von Happy birthday, Türke! , die Doris Dörrie 1992 drehte. Besonders gut hat Philip Waechter die Szene im Gedächtnis, in der sein Bruder als Statist durchs Bild läuft. Umso mehr irritierte es Waechter, als er das Buch – in Vorbereitung auf seine Arbeit – zum ersten Mal las: „Es spielt an heißen Sommertagen. Man hört die Ventilatoren summen, die Hitze brennt auf der Haut. Das war entscheidend für meine Illustrationen. Warum der Film im Winter spielt, das erklärt sich mir nicht. Für die Atmosphäre macht das schon einen Unterschied.“ Das Krimigenre reizte ihn, der besonders für das hochwertige Kinderbuch bekannt geworden ist. Und auch die Tatsache, dass es streckenweise darum gehen sollte, seine Heimat und Wahlheimat zu zeigen, weckte sein Interesse an dem Projekt. Bei seiner Recherche hat sich Philip Waechter jedoch nicht nur auf seine vagen Erinnerungen verlassen, sondern auch einige Fotobücher durchgeblättert. Wenn man genau hinsieht, erkennt man Parallelen zu den Bildern, die Ulrich Mattner gemacht hat. Da wäre zum Beispiel der Gebrauchtwarenhändler, den man im echten Leben auf der Nibelungenallee findet. Oder die Stacheldrahtvorrichtung auf dem Wasserhäuschen, kleine Details, zu denen sich der Künstler inspirieren ließ. Und so entstand ein ganzer Packen an Skizzen und fertigen Zeichnungen, die Waechter anschließend am PC collagierte. Eine Technik, die ihm sehr viel Freiraum in der Gestaltung lässt, ihm Experimente ermöglicht. Die Ergebnisse sammeln sich in drei Stapeln auf seinem sonst recht aufgeräumten Schreibtisch: unfertig, fertig und absolut zufrieden. Drei Stapel auf dem Weg zu einem illustrierten Buch, das gleichzeitig ein unverwechselbarer Waechter ist und doch eine neue Facette des Illustrators zeigt. Darin ist es durchaus vergleichbar mit dem Frankfurter Bahnhofsviertel: Laufhäuser, Leuchtreklamen, wankende Passanten und Rausch sind typisch für diese Straßen. Und doch hat sich das Bild in den letzten Jahrzehnten gewandelt – wenn auch nicht bis zur Unkenntlichkeit.