NEUES AUS DER BÜCHERGILDE

 

 

Perle des östlichen Mittelmeers

 

Mit seinem verschmitzten Roman Die Nächte der Pest schreibt Orhan Pamuk eine Chronologie der fiktiven Insel Minger, über die Seuche, Mord und Revolution hereinbrechen.

 

Ein üppiges und farbintensives Leseerlebnis, durch das gekonnt die Realität hindurchschimmert.

 

Ein Beitrag von Martin Oehlen

"Nobelpreisträger Orhan Pamuk lässt in Die Nächte der Pest einer schier übermütigen Erzählfreude ihren Lauf. So farbenfroh und so detailverliebt kommt sein Roman daher, dass es nur stetig brodelt und schäumt."

Martin Oehlen

 

Dass es ein dickes Buch geworden ist, bestätigt die Erzählerin Mina Mingerli auf Seite 691 höchstselbst. Aber wie könnte man der bestens informierten Historikerin ein solches Ausmaß verdenken? Denn wer könnte die turbulente Geschichte der Insel Minger im Jahre 1901 kundiger vermitteln? Selbstverständlich hat dies vor allem damit zu tun, dass Mingerli die Urenkelin von Pakize Sultan ist, der dritten Tochter des 33. osmanischen Sultans Murat V. Ursprünglich wollte sie nur ein Vorwort zur Edition der 113 Briefe schreiben, die Pakize Sultan zwischen 1901 und 1913 an ihre Schwester Hatice Sultan geschickt hatte. Doch dann weitete sich das Ganze zu einem „Geschichtsbuch“ aus, das auf eben diesen Briefen von Pakize Sultan basiert, die für kurze Zeit als Königin von Minger amtierte.

 

 

Auf der Karte sucht man Minger, „die Perle des östlichen Mittelmeers“, vergebens. Orhan Pamuk entschied sich in seinem Roman Die Nächte der Pest für eine von Muslimen und Christen bewohnte Fantasie-Insel. Auf dem burgbewehrten Eiland bricht eines Tages die Pest aus: Die Reaktionen reichen von nicht wahrhaben wollen bis zur strengen Quarantäne, vom mahnenden Mediziner bis zum widerborstigen Pest-Leugner. „Lockdown“ hieß damals noch „Ausgangssperre“.

© Orhan Pamuk und Ahmet Işıkçı
© Orhan Pamuk und Ahmet Işıkçı

 

Der Mord am berühmten Quarantänearzt Bonkowski Pascha ist der Anfang von allerlei Todesfällen – auch solchen, deren Ursache nicht der Pest zuzuschreiben ist, sondern gewalttätigen Auseinandersetzungen und kurzerhand verhängten Todesurteilen. Dass die böse Tat und die langwierige Aufklärung auf bekannten Romanen von Alexandre Dumas oder Arthur Conan Doyle fußen, darf an dieser Stelle verraten werden.

 

Schließlich wird in Minger Geschichte geschrieben: Das pestverseuchte Eiland, das von Schiffen der Großmächte blockiert wird, erklärt seine Unabhängigkeit vom osmanischen Reich. Die revolutionäre Erhebung vom 28. Juni 1901 gehört zum Schönsten, was das Buch zu bieten hat: eine Politfarce wie gemalt. Dass die Mingerer sogleich einem aufgeklärten Staatswesen zustrebten, lässt sich nicht behaupten. So ist eine der ersten Maßnahmen des Staatspräsidenten, den die Mingerer auf alle Zeiten lieben werden, der Druck einer Briefmarke mit dem eigenen Konterfei. Und als Archäologen behaupten, Minger sei in der Vergangenheit wohl eines Tages besiedelt worden, lässt sich der Präsident nichts vormachen – er weiß zwar nichts, das aber besser. Überhaupt ist Geschichtsklitterung ein schöner Strang in diesem Buch.

 

Natürlich neigt man beim Lesen dazu, diese Ereignisse mit unserer Gegenwart in Verbindung zu bringen. Anmerkungen wie jene, dass Minger im Jahre 2008 die Aufnahme in die EU beantragt habe, lassen aufmerken. Dies habe zur Folge gehabt, dass es auf einmal nicht mehr so leicht gewesen sei, Oppositionelle einzuschüchtern. Wer da an die Türkei denkt, denkt vermutlich nicht in die falsche Richtung.

Nobelpreisträger Orhan Pamuk lässt in Die Nächte der Pest einer schier übermütigen Erzählfreude ihren Lauf. So farbenfroh und so detailverliebt kommt sein Roman daher, dass es nur stetig brodelt und schäumt. Da ist immer noch Platz für eine Randbemerkung, da findet sich immer noch Raum für einen eingeklammerten Hinweis. Bei so einer umfangreichen Erzählung ist es auch mal geboten, kurz Luft zu schnappen – um sich bald darauf mit neuem Elan an dieses türkisch-griechische Panorama zu machen. Das funktioniert, wirklich – denn Orhan Pamuk zündet mit diesem Roman ein wahres Feuerwerk. Mal ernst und mal ausgelassen und zumeist leicht verschmitzt erzählend, demonstriert er seine Meisterschaft. So viel steht fest: Ehrenbürger von Minger wird er gewiss.

Martin Oehlen beschäftigt sich privat und professionell mit Büchern und bloggt auf buecheratlas.com