„Gerade! Halt Dich gerade, Oller!“

Das Ruhrgebiet der Arbeiterschicht: kohlenschwarz, schuftend, spießig, ehrlich. Die illustrierte Ausgabe von Ralf Rothmanns Milch und Kohle erinnert ausdrucksstark an eine schwindende Zeit. Übers Zechensterben, Industriecharme und schreibende Arbeiter.

Von Jochen Kienbaum

© Jörg Hülsmann

Glück auf, Glück auf! Der Steiger kommt. Und er hat sein helles Licht bei der Nacht, schon angezünd’t.“ Als drei Tage vor dem Weihnachtsfest des Jahres 2018 auf der Bottroper Zeche Prosper-Haniel ein Bergmannschor das Steigerlied anstimmt, steigen gestandenen Kumpeln die Tränen in die Augen, laufen die Wangen hinab und verschmieren zu einem Kohlenstaub-Mascara. Der letzte Förderkorb mit Steinkohle wird über Tage geholt, die letzte noch aktive Zeche des Ruhrgebiets schließt. Das Fernsehen überträgt live, ganz Deutschland sieht die Bergleute weinen. Die meisten von ihnen gehen in den Ruhestand, die verbleibenden räumen unter Tage auf. Eine Ära endet. Prosper-Haniel wird künftig, wie viele Zechen zuvor, zum Kulturdenkmal oder Museum. Landschaftspark Duisburg-Nord, Industriedenkmal Kokerei Hansa oder Kulturzentrum Zeche Zollverein heißen die Anlagen, in denen früher das Herz der bundesdeutschen Schwerindustrie geschlagen hat. Statt harter Malocher werken hier nun hippe Kulturbetriebler, junge Start-up-Unternehmer und Ingenieure der Industrie 4.0. Denn auch wenn Kohle und Stahl gehen, die Menschen bleiben. Und das Ruhrgebiet hat über die Zeit einen ganz besonderen Menschenschlag geformt: fleißig und zäh, den Unbilden des Lebens trotzend, mit großer Klappe, direkt und geradeheraus, aber immer mit dem Herzen am rechten Fleck. Bergleute und Stahlkocher hielten den Motor des deutschen Wirtschaftswunders in Schwung. Für sie bedeutete das schmutzige Knochenarbeit, Entbehrung, Existenzkampf am Minimum und nur selten kleines Glück oder bescheidener Wohlstand.

 

Ralf Rothmann ist in diesem Milieu aufgewachsen. Als Bergmannssohn bieten sich dem jugendlichen Schulabgänger berufliche Perspektiven nur im Pütt oder auf dem Bau. Rothmann wird Bauarbeiter, weil ihn das Beispiel des Vaters von der Kohle abgeschreckt hat. Später jobbt er als Koch und Krankenpfleger. Als angehender Schriftsteller greift Rothmann dann konsequent auf das zurück, was er kennt: das Ruhrgebiet, die Arbeiterfamilien, den Alltag zwischen Kohlenhalde, Schrebergarten und Eckkneipe. Milch und Kohle sowie drei weitere autobiografisch gefärbte Romane widmen sich dieser engen Welt.

© Jörg Hülsmann

„Simon! Ich habe die Mutti geschlagen, mehrmals, auch ins Gesicht“, hat der Vater ungelenk auf einen Zettel gekritzelt. Als Simon, dem Ich-Erzähler des Romans, und seinem Bruder Thomas dieses Blatt beim Ausräumen der elterlichen Wohnung in die Hände fällt, setzt schlagartig die Erinnerung ein. Die enge, miefig-spießige Alltagswelt der Familie Wess in den späten Sechzigerjahren ersteht. Hier der traurige und schweigsame Vater, dem der Kohlenstaub wie eine Tätowierung in die Augenfältchen gewachsen ist und der am liebsten Milch trinkt, weil ihn das an glücklichere Zeiten als Melker auf einem Gutshof erinnert, bevor er Kohlenhauer in Sterkrade wurde. Dort die lebenslustige Mutter, deren einzige Freude der Tanz und das Wochenendvergnügen im Lokal „Maus“ ist, der Nagellack und Nylonstrümpfe wichtiger sind als ein geordneter Haushalt, die ihren Kindern das Geld aus den Sparschweinen puhlt und mit dem italienischen Gastarbeiter Gino eine Liaison beginnt. Simon schildert seine Jugend rückblickend wie ein Beobachter aus der Fremde. Eine Welt aus Bergbau und Bier, Pommesbude und Kanarienzucht im Keller, eine Welt, in der Träume zerschellen, in der Staublunge und Geldnot regieren und in der beim Bruder Thomas eine seelische Entwicklungsstörung zu einer schweren Epilepsie wird.

 

Simon nimmt das hin, fügt sich, so gut er kann, sein Freund Pavel dagegen rebelliert. Zornig knattert er auf seiner Zündapp los zur Sauftour, verführt ältere Frauen im Zelt, schert sich einen Dreck um Zukunft und Beruf. Sein ständiger Rat an Simon lautet: „Gerade. Halt dich gerade, Oller!“ Doch irgendwann schlägt Pavel im Streit seinen Vater nieder und kracht mit dem Familienford gegen eine Autobahnbrücke. In bewundernswerter sprachlicher Verknappung breitet Rothmann eine Fülle von Details aus. Kleidung, Alltagsgegenstände, Düfte und Farben sind förmlich zu greifen, zu sehen, zu riechen. „Wir hatten auch gute Zeiten“, resümiert die krebskranke Mutter schließlich auf dem Sterbebett im Krankenhaus und fügt in Erinnerung an den Ehemann und Vater hinzu, „ich muss ihn wohl doch geliebt haben, wenn ich ihm so schnell nachfolge“. Spätestens jetzt wird Simon, mittlerweile Autor und Dozent an einer Uni in den USA, schlagartig klar: Mit den Eltern tritt eine Generation ab, die das Ruhrgebiet auf ihre Art geprägt hat und die vom Ruhrgebiet geprägt wurde.

© Jörg Hülsmann

Die Kumpel und Stahlarbeiter waren die Ersten, die der Ruf nach Arbeitskräften ins Revier gezogen hat, ihnen folgten Gastarbeiter wie Gino. Nun, am Ende der Kohleära, zieht es neue Menschen in den Pott. Sie arbeiten und forschen im Hightech-Business oder im gehobenen Dienstleistungssektor. Die Arbeitswelt wandelt sich, das Ruhrgebiet verändert sein Gesicht, aber es bleibt ein Ziel für Arbeitsmigration, ein Ort für Träume von einer besseren Zukunft.

Diese Transformation einer Region greift Rothmann am Rande auf, er konzentriert sich in Milch und Kohle auf die Arbeits- und Lebenswelt der Elterngeneration. Rothmann erzählt von Arbeitern, reiht sich aber nicht wie Max von der Grün, Angelika Mechtel, Günter Wallraff und andere ein in die Tradition klassischer Arbeiterliteratur. Anders als die Mitglieder der Dortmunder Gruppe 61 oder des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt begreift sich Rothmann nicht als schreibender Arbeiter und noch weniger als Schriftsteller, den soziologische oder gesellschaftspolitische Impulse antreiben. „Ich wollte die Arbeitswelt ja überwinden, weil ich sie als eng, bedrückend und letztlich auch niederdrückend empfunden habe“, verriet er der Zeitung Der Freitag im Juli 2000. Rothmann erinnert sich, ihm geht es um die seelische Verfassung seiner Figuren, nicht um klassenkämpferischen Auftrag. Sein Blick auf das Ruhrgebiet der Fünfziger- und Sechzigerjahre ähnelt dem Blättern in privaten Fotoalben. Schnappschüsse, kurz belichtete und eingefrorene Szenen fügen sich im Fluss der einzelnen Bilder zu einem Gesamtbild; kein auf Vollständigkeit zielendes Geschichtspanorama, sondern ein privater Erinnerungsstrom.

Dieses Erinnern greift Jörg Hülsmann, ebenfalls geboren und aufgewachsen im Ruhrgebiet, in seinen Illustrationen auf. Ausgehend vom Titel Milch und Kohle, kamen für ihn nur schwarz-weiße Tuschezeichnungen in Betracht, die anmuten wie alte Fotos: körnig, flächig, mit hartem Kontrast, gemildert von bräunlichem Grau in den Zwischentönen, das das Hoffnungsvolle im Text aufgreift. Hülsmann konzentriert sich mal auf unscheinbare Details und Randständiges, mal auf die Landschaft und das urbane Umfeld. Die Atmosphäre und das Lebensgefühl des Ruhrgebiets beschreibt der Illustrator als „bisweilen rau, nicht allzu sensibel oder elegant, dafür wohltuend ehrlich, offen und unaufgeregt“. Genau das zeigen seine Bilder. Einige stecken sogar lose zwischen den Seiten von Milch und Kohle, damit sie dem Leser beim Durchblättern des Buches wie aus einem alten Familienfotoalbum unverhofft in die Hände fallen. Am Ende des Romans stehen Simon und sein Bruder Thomas in der leeren Wohnung der Eltern. Viel zu sagen haben sie sich nicht. Sie schmeißen letzte Möbel und Erinnerungsstücke auf den Müll, fegen aus – das Leben der Familie Wess in Sterkrade ist wie der Bergbau Geschichte.

Wie seine Hauptfigur Simon ist auch Ralf Rothmann durch das Schreiben seiner Herkunft entronnen. Aber er begibt sich mit lebensgeschichtlichem Abstand schreibend wieder in sie zurück. Einfühlsam und äußerst genau im Detail errichtet sein Roman dem Verschwundenen ein Denkmal, manchmal elegisch, niemals aber nostalgisch verklärend. Über das Autobiografische hinaus erinnert Milch und Kohle an diesen besonderen Menschenschlag, der „den Kohlenpott“ kollektiv geprägt hat, bevor das Ruhrgebiet, wie Rothmann es hier beschreibt, endgültig verschwand.

 

Jochen Kienbaum lebt und liest in Berlin. Er schreibt darüber auf lustauflesen.de.