Lutz Seiler, geboren 1963 in Gera, lebt in Wilhelmshorst und Stockholm. Für sein lyrisches, erzählerisches und essayistisches Werk, das in 25 Sprachen übersetzt ist, erhielt er zahlreiche renommierte Preise, u. a. den Deutschen Buchpreis 2014 für Kruso.
Lutz Seiler
Stern 111
Ein Panorama der ersten Nachwendejahre, ein epischer Roadtrip, ein Berlin-Roman. Zwei Tage nach dem Fall der Mauer verlassen Inge und Walter Bischoff ihr altes Leben. Ihre Reise führt die beiden Fünfzigjährigen weit hinaus: Sie folgen einem lange gehegten Traum, einem „Lebensgeheimnis“, von dem selbst ihr Sohn Carl nichts weiß. Carl wiederum flieht nach Berlin, er lebt auf der Straße, bis er in den Kreis des archaischen „klugen Rudels“ aufgenommen wird. Seiler erzählt die Geschichte einer Familie, die der Herbst 1989 sprengt und die nun versuchen muss, neu zueinanderzufinden.
22.00 € | NR 172038
Für das Buch Stern 111 hat Lutz Seiler im Frühjahr 2020 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik gewonnen.
In der Auszeichnung lobt die Jury besonders das Leuchten des Romans und dessen "menschenfreundlichen Humor". Weiter schreibt die Jury: "In Lutz Seiler kunstvollem Roman wird groß und genau die Neuordnung der Dinge in einem plötzlich regellosen Raum beschrieben, und das in der Verquickung von Geschichtsschreibung und Privatmärchen."
Der Preis der Leipziger Buchmesse wird seit 2005 vergeben. Es werden Neuerscheinungen des vergangenen Jahres seit der letzten Messe geehrt. Die Jury setzt sich aus sieben LiteraturkritikerInnen und -fachleuten zusammen. Vergeben wird der Preis in den drei Kategorien „Belletristik“, „Sachbuch und Essayistik“ sowie „Übersetzung“ und ist in jeder Sparte mit 20.000 Euro dotiert.
Von der Laubsägearbeit zur Literatur
An Büchern hatte Lutz Seiler lange kein Interesse. Bis er während seiner Armeezeit in der DDR die Literatur für sich entdeckte – und dann selbst zum mehrfach preisgekrönten Schriftsteller wurde.
Von Julia Schmitz
„Gut gespitzte Bleistifte und Ringblöcke, liniert“, mehr braucht Lutz Seiler zum Schreiben nicht. Doch hinter der minimalistischen Ausstattung verbirgt sich ein strenges Ritual: Jeden Bleistift nutzt er nur bis zu einer bestimmten Länge ab, bevor er zu den anderen „Zweidrittel-Bleistiften“ in den Schreibtisch wandert. Diese Akribie im Umgang mit Schreibmaterial schlägt sich auch in den Texten des 1963 im thüringischen Gera geborenen Schriftstellers nieder. Jeder Satz müsse Hunderte Male laut gesprochen werden, um zu überprüfen, ob Klang und Rhythmus stimmen, heißt es auf seiner Webseite, auf der Seiler Einblicke in seine „Werkstatt“ gibt. Dass seine Wurzeln in der Lyrik liegen, ist auch in seinen belletristischen Werken spürbar: Selbst in einem Text von über fünfhundert Seiten wirkt jedes Wort, als sei es mit besonderem Fingerspitzengefühl passgenau in das Gesamtgefüge eingesetzt worden.
Doch es ist zunächst genau das Fehlen von Fingerspitzengefühl, welches ihn als jungen Mann überhaupt zur Literatur bringt. Während seine Kameraden bei der Nationalen Volksarmee der DDR Mitte der 1980er-Jahre in ihrer Freizeit kunstvolle Laubsägearbeiten herstellen, scheitert Seiler an den hauchdünnen Verbindungsstücken von hölzernen Pyramiden und Schwibbogen. Er beginnt stattdessen zu lesen – und gleichzeitig zu schreiben. Warum genau, sei ihm bis heute unerklärlich, heißt es in einem seiner Essays. Zuvor hatte sich der gelernte Baufacharbeiter, der danach ein paar Jahre als Zimmermann und Maurer arbeitete, überhaupt nicht für Literatur interessiert.
Einmal in die Welt der Sprache eingetaucht, gibt es für ihn kein Zurück mehr. Nach der Wende studiert er Geschichte und Germanistik in Halle, publiziert 1995 seinen ersten Gedichtband berührt / geführt. Zu dieser Zeit lebt er bereits in Berlin, arbeitet als Kellner in einer schummrigen Kneipe im Souterrain eines abbruchreifen Hauses. Diese anarchisch geprägte Nachwendezeit in der vormals geteilten Stadt, in der sich der Muff von 40 Jahren real existierendem Sozialismus mit den fantasievollen Utopien freiheitsliebender Nonkonformisten vermischte, bildet den Schauplatz in seinem neuen Roman Stern 111, der in diesem Frühjahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Er erzählt die Geschichte von Carl, der sich nur wenige Tage nach dem Fall der Mauer mit dem Wunsch seiner Eltern, in den Westen zu gehen, konfrontiert sieht; warum dies sofort geschehen muss, wird erst im Laufe der Geschichte verraten. Die Situation zieht Carl den Boden unter den Füßen weg: „Für einen Moment beschlich ihn der Verdacht, dass die Welt, der er angehörte, klammheimlich verschwunden und er einer der Übriggebliebenen war, ein Stück angefaultes Treibholz auf dem großen breiten Strom der neuen Zeit.“
Vogelfrei und ohne Verpflichtungen packt er seine wenigen Sachen und fährt kurzerhand mit dem alten Auto seines Vaters nach Berlin, dieser neuerdings doppelt so großen Spielwiese für Selbstverwirklicher. Nach einigen kalten Nächten im Auto gerät er im Fieberrausch in die Clique um einen Mann mit dem Spitznamen „Hirten“, die verlassene Häuser in Ost-Berlin besetzt und in einem Keller an der Oranienburger Straße eine halb-illegale Bar namens „Assel“ betreibt; die bunt zusammengewürfelte Truppe wird schnell zu seiner Ersatzfamilie. Mit ihrer Hilfe findet er auch eine Bleibe in einem verlassenen Hinterhaus in Prenzlauer Berg, wo er auf zusammengeschnürten Polstern schläft – seine Handvoll Besitz passt in eine Ecke. Dort kann er sich auf sein eigentliches Lebensziel konzentrieren: Lyriker sein.
Als er auf einer Vernissage seine Jugendliebe Effi wiedertrifft, wird sein sowieso noch auf wackligen Füßen stehendes Leben erneut durcheinandergebracht. Im Rausch der Gefühle lassen sich die beiden durch den räudigen Prenzlauer Berg der Nachwendezeit treiben, in dem die Fassaden zerbröselt sind, die Luft noch von Kohlestaub gesättigt ist und pastellfarben sanierte Luxusaltbauten in weiter Ferne liegen. Doch will Carl diese Art von Leben?
Dass Seiler hier auf eigene Erlebnisse zurückgreift, ist offensichtlich – und beabsichtigt. Dennoch handele es sich, betont er, weder um Autobiografie noch Autofiktion: „Ich sage, dass ich auf die eigenen Erfahrungen als ein authentisches Ausgangsmaterial beim Schreiben nicht verzichten möchte – dort setzt das Erzählen an, und was dann entsteht, ist Literatur, die ihren ganz eigenen Gesetzen folgt.“ Während des Schreibprozesses lässt der Autor die Figuren ihren eigenen Weg gehen, ohne jedoch ganz die Zügel aus der Hand zu geben: „Beim Schreiben verändert sich alles, die Sprache regiert, man möchte eine bestimmte Melodie, einen Klang, einen Rhythmus. Das Erfinden beginnt, es wird etwas anderes daraus; der Text folgt seinen eigenen, literarischen Gesetzen, bis ins Fantastische hinein, wenn eine Ziege zu fliegen beginnt, zum Beispiel.“
Wie schon in seinem 2014 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman Kruso, der an seine Zeit als Hilfsarbeiter auf der Insel Hiddensee 1989 angelehnt ist, reizte ihn auch bei Stern 111 der Blick zurück. „Mit diesem Abstand von 30 Jahren erschien mir das alles wie eine fantastische Szenerie, eine Nachkriegsszenerie. Wie die Häuser aussahen, in denen wir gelebt haben … Obwohl ich das erfahren habe, erscheint mir dieses Leben damals heute exotisch und fremd. Ich durfte es noch einmal neu entdecken.“
Eine nostalgisch verklärte Darstellung der Wendezeit hat Lutz Seiler trotzdem nicht verfasst. Auch wenn Grenzöffnung, Begrüßungsgeld und Deutsche Einheit allein aufgrund der Zeitumstände eine Rolle im Roman spielen und man bei der Erinnerung an das wilde Berlin von damals durchaus sentimental werden kann: Im Vordergrund der Geschichte steht die Entwicklung des unsicheren jungen Mannes hin zu einem erwachsenen und selbstbewussten Künstler, der ohne Scham von sich selbst als Lyriker sprechen kann. Eine Erfahrung, die Seiler wahrscheinlich ebenfalls durchlebt hat, aber – nach zahlreichen Auszeichnungen und Publikumserfolgen – längst hinter sich gelassen haben wird.