Büchergilde Leseprobe

Stefan George

Thomas Karlauf

Schutzumschlag, Papierformat: 13,5 x 21,5 cm, Leinen, geprägt, Klebebindung, 832 Seiten.
NR 158868

 

Prolog

»Und er kann töten, ohne zu berühren«
Wien, 14. Januar 1892
Der 14. Januar 1892, der Tag, an dem der 23-jährige Stefan George den 17-jährigen Gymnasiasten Hugo von Hofmannsthal ultimativ aufforderte, sich endlich mit ihm zu treffen, war ein Donnerstag. Anfang der Woche war George wieder einmal umgezogen: von der Garnisongasse drei Straßen weiter in die Wasagasse, Ecke Türkenstraße, wo er bereits bei seinem ersten Aufenthalt in Wien ein Dreivierteljahr zuvor Quartier gefunden hatte. Ein Bote war bestellt. Der Brief, den George in der Nacht geschrieben und dann auf »Donnerstag morgen« datiert hatte, sollte in den 3. Bezirk ans andere Ende der Stadt gebracht werden. Er steckte, ohne jede Anrede, ohne jede Grußformel, bereits im Couvert, als dem Verfasser Zweifel kamen, ob der Adressat den Ernst der Lage erfasse. »Bitte diesen brief zu lesen um die unangenehmsten folgen zu verhüten«, schrieb George mit Bleistift auf einen Zettel und legte ihn dem Brief bei. Der Dienstmann, der etwa eine halbe Stunde in die Salesianergasse brauchte, sollte dort auf Antwort warten. Also auf etwas hin und gott weiss welches etwas »das Sie verstanden zu haben glauben« schleudern Sie einem gentleman der dazu im begriff war Ihr freund zu werden eine blutige kränkung zu. Wie konnten Sie nur so unvorsichtig sein, selbst jeden verbrecher hört man nach den schreiendsten indizien. Sie sehen ich rede ganz gesezt und wenn Sie nach einigen tagen gelassen denken oder nach jahren so werden Sie mir (mit Ihren werten eltern deren einziges kind Sie sind!) sehr verbunden sein dass ich soviel ruhe bewahrte und nicht sofort das veranlasse was mit Ihrem oder meinem tod endet. Am Abend zuvor war Stefan George zum wiederholten Mal im ersten Stock der Salesianergasse vorstellig geworden, um nach dem jungen Herrn von Hofmannsthal zu fragen. Dieser hatte ihm am Dienstag zwar einige Bücher geschickt, Georges inständigem Bitten um ein Treffen war er jedoch seit Tagen ausgewichen. Seit seinem Besuch in dessen Pension an Heiligabend hatte sich Hofmannsthal mehrmals verleugnen lassen. George war nur seinetwegen über die Feiertage in Wien geblieben, wartete aber vergeblich; am 14. Januar war seine Geduld erschöpft. Bevor George im März 1891 sein Studium an der Wiener Universität aufnahm, hatte er sich eine kleine Reise nach Verona und Venedig gegönnt. Zwei in Venedig entstandene Gedichte legen die Vermutung nahe, dass Georges Hang zur Schwermut dort erheblich verstärkt wurde. Das eine der beiden »Gesichte« endet: Ich darf so lange nicht am tore lehnen, Zum garten durch das gitter schaun, Ich höre einer flöte fernes sehnen, Im schwarzen lorbeer lacht ein faun.

Das andere Gedicht berichtet im Ton der Ballade von einer schönen und stolzen Venezianerin, die sich mit allem erdenklichen Luxus umgibt, um auf diese Weise der ganzen Stadt, insbesondere ihrem greisen Galan, Unnahbarkeit zu demonstrieren. Am Ende hält sie die Rolle der pompösen Frigiden jedoch nicht durch und gibt sich »in verhangenem gemach« einem namenlosen Liebhaber hin; nach dem Akt empfindet sie Schmach. In ihrer Verzweiflung, der glanzvollen Rolle nicht länger entsprechen zu können, sieht sie den einzigen Ausweg darin, sich öffentlich zu demütigen: Besser, alle Welt erfährt, dass sie hier liege, »niedrig und gebrochen«, als dass ein Einzelner sich anmaßt, den Sieg über sie davongetragen zu haben. Ein sprödes, herrisches Wesen und ein bis an die Grenze der Selbstzerstörung getriebener Hochmut: Das Bild der Venezianerin trägt durchaus autobiographische Züge. In Wien, wo er zum Frühjahrsbeginn aus Venedig eintraf, fühlte sich George von Anfang an einsam. Er kannte niemanden und verfügte über keine Empfehlungsschreiben. Auf langen Spaziergängen habe er die ihn südlich anmutende Stadt und ihre Umgebung erkundet, wusste der von George autorisierte Biograph Friedrich Wolters 1930. Er habe Museen besucht, viel gelesen - mit Vorliebe Texte deutscher Romantiker -, Baudelaire übersetzt, und gelegentlich warf er wohl auch einen Blick in den Hörsaal. Die Gedichte, die in diesen Monaten entstanden, zeugen von wüsten Versuchungen und Allmachtsphantasien bis hin zu schrillen Obsessionen: Vor deinen schuhen stammelt man den eid, Entführte weiber weinen ihren gram Und eine, wirr im schrecken, ohne scham Zerreisst vor deinem herrenblick ihr kleid. Die Sommerferien verbrachte George zu Hause am Rhein. Auf dem Weg von Wien nach Bingen legte er ein paar Wandertage in Oberbayern ein und besuchte aus einer »dunklen Neigung« zu dem fünf Jahre zuvor verstorbenen Bayernkönig Ludwig II. Schloss Linderhof. Obwohl er nach der Besichtigung »an heftigem seelenkatarrh« litt, erhielt er doch entscheidende Anregungen zu einem neuen Gedichtband Algabal. Anfang September brach er eine Reise nach London in großer Erregung vorzeitig ab, fuhr anschließend zwei Wochen nach Paris und kehrte dann über Berlin Ende Oktober nach Wien zurück. Auch jetzt fand er nirgendwo Anschluss. Von innerer Unruhe getrieben, durchstreifte er abends die Straßen und dürfte die Verachtung der Welt ähnlich tief empfunden haben wie seine schöne Venezianerin. Der Abwehrmechanismus war der gleiche. Nicht er trug Schuld an seiner Vereinsamung, sondern die Stadt hatte nichts anderes verdient, als mit Nichtachtung gestraft zu werden. Wien sei doch gar nicht mit Paris zu vergleichen, schrieb er nach seiner Flucht Mitte Januar an Marie Herzfeld: »Ich gedeihe nicht unter jenen (grösstenteils) zeitungsschreibern ohne jedes musikalische oder malerische interesse. « In Paris lebten die Dichter, »die wahre künstler zugleich sind«. Solche wie er. Bis zur Begegnung mit Hofmannsthal Mitte Dezember 1891 ist Marie Herzfeld der einzige Kontakt Georges in Wien, von dem wir wissen. Die 36-jährige Übersetzerin zeitgenössischer skandinavischer Literatur, die gelegentlich auch in der Wiener Mode publizierte, hatte er im November über seine Zimmerwirtin in der Garnisongasse kennengelernt. Marie Herzfeld »besäße die Einfühlsamkeit, ihn zu verstehen«, hatte die Wirtin ihm gesagt, und in der Hoffnung, sie werde seine Gedichte besprechen, suchte George sie auf. Zwar konnte Marie Herzfeld mit seinen Versen nur wenig anfangen - »was er sagt, ist besser, als was er schreibt« -, aber ihn selbst empfand sie als so interessant, dass sie sich mehrmals mit ihm traf. Vielleicht durch einen Hinweis von Marie Herzfeld, die zum Kreis der Mitarbeiter der Modernen Rundschau zählte, vielleicht auch durch Lektüre, wurde George Anfang Dezember auf Hugo von Hofmannsthal aufmerksam. Weil österreichischen Gymnasiasten das Publizieren verboten war, veröffentlichte er fleißig unter Pseudonymen wie Theophil Morren, Loris Melikow oder einfach Loris. George hat wohl am meisten das kleine Versdrama Gestern angesprochen. Das im Oktober und November in der Modernen Rundschau gedruckte Stück, dessen Buchausgabe Hofmannsthal an Weihnachten George zum Geschenk machte, zeigte trotz gewisser Holprigkeiten einen neuen lyrischen Ton. Eine ausführliche Schilderung ihrer ersten Begegnung gab Hofmannsthal selbst kurz vor seinem Tod. Auch wenn sich aufgrund des zeitlichen Abstands Irrtümer eingeschlichen hatten, ist die Stimmung jenes Dezemberabends vermutlich recht genau getroffen. Im Café - »es war dieses berühmte Griensteidl, wo ich oft hinging, u. waren damals sehr viele junge Leute da« - habe ihm eines Tages jemand erzählt, es sei jetzt ein Dichter Stefan George in Wien, der aus dem Kreise von Mallarmé komme. Ganz ohne Vermittlung durch Zwischenpersonen kam dann George auf mich zu: als ich, ziemlich spät in der Nacht, in einer englischen revue lesend, in dem Café sass, trat ein Mensch von sehr merkwürdigem Aussehen, mit einem hochmütigen leidenschaftlichen Ausdruck im Gesicht (ein Mensch der mir weit älter vorkam als ich selber, so wie wenn er schon gegen Ende der Zwanzig wäre) auf mich zu, fragte mich, ob ich der und der wäre - sagte mir, er habe einen Aufsatz von mir gelesen, und auch was man ihm sonst über mich berichtet habe, deute darauf hin, dass ich unter den wenigen in Europa sei (und hier in Oesterreich der Einzige) mit denen er Verbindung zu suchen habe: es handle sich um die Vereinigung derer, welche ahnten, was das Dichterische sei. Folgt man der Darstellung Hermann Bahrs, so trat George keineswegs auf Hofmannsthal zu. Um 1910, also knapp zwanzig Jahre vor Hofmannsthals eigenem Bericht, erzählte er dem jungen Herbert Steiner: »Er [George] schickte ein paar Worte zu Hofmannsthal herüber und der setzte sich an seinen Tisch und war ganz begeistert von ihm.« Wichtiger als die Nuance, wer sich zu wem an den Tisch setzte, ist der in beiden Quellen übereinstimmende Hinweis, dass Georges äußere Erscheinung als ungewöhnlich registriert wurde und ihm der Ruf vorauseilte, er komme direkt aus Paris. Das machte George sogar für die anspruchsvolle Wiener Szene interessant. »Er fiel uns allen auf durch seinen ungewöhnlichen Kopf und durch ein viereckiges Monokel, das er von Paris mitbrachte.« George, so fasste Steiner die verschiedenen Berichte später knapp und treffend zusammen, saß »abseits, beobachtend, nicht ganz unbeobachtet«. Jeder beobachtete freilich etwas anderes. In den Tagen, in denen George und Hofmannsthal sich kennenlernten, arbeitete Hermann Bahr an seinem Aufsatz »Loris«, der im Januar in der Freien Bühne erschien und den jungen Dichter mit einem Schlag bekannt machte. Bahr zeichnete ein Porträt, »wie Watteau oder Fragonard es gemalt hätte«, ganz im Stile des Rokoko: »unter der kurzen, schmalen, von glatten Ponnys überfransten Stirne … braune, lustige, zutrauliche Mädchenaugen«, die von einer »naiven Koketterie« zeugten, »welche die schiefen Blicke von der Seite liebt«. - »Ein feiner, schlanker, pagenhafter Leib von turnerischer Anmut, biegsam wie eine Gerte … mit den fallenden Schultern der raffinierten Kulturen, von ungeduldiger Nervosität … Er erlebt nur mit den Nerven … er empfindet nichts … daher aber auch die Kälte, die sécheresse, der ironische Hochmut seiner Verse.« Marie Herzfeld fügte diesem Bild in ihren Erinnerungen noch »die herrliche Reihe ebenmäßiger Zähne« hinzu: »Wenn er laut auflachte (was er gern tat und wobei er wie ein Kind den Ton beim Atmen auf und ab zog), entstanden Grübchen in den pfirsichfarbenen Wangen … Die Haare waren von tiefgebräuntem Blond, die Augen wie helle Haselnuss, mit dem lichten Blau, das in diese Farbe gemischt ist.« Erste Begegnung mit Hofmannsthal Schon früh gab es jedoch auch Stimmen, die davor warnten, sich von der Leichtigkeit seines Auftretens blenden zu lassen. Hofmannsthal sähe »ungefähr so aus wie sehr viele Wiener junge Herren aus gutem Haus«, schrieb der spätere Direktor des Wiener Hofburgtheaters, Alfred von Berger, 1905. »Er spricht auch so, wie man in Wien oft sprechen hört. In aristokratischem Wienerisch, mit etwas näselnder Stimme und ein wenig ziehender Sprechweise sagt er einem über ein Buch, das er soeben gelesen hat, die feinsten Sachen so geflissentlich nachlässig und unliterarisch, als ob er sich beim Oberkellner eines eleganten Restaurants beklagte, dass der Champagner nicht genug frappiert ist.« Zwar fände sich in Hofmannsthals Poesie eine Reihe von »auserlesenen lyrischen Leckerbissen«, aber zu einem Hasenragout gehöre nun einmal in erster Linie ein Hase. Vieles wirke bloß anempfunden, und deshalb könne man auch nicht viel »Körperhaftes, Scharfumrändertes« an ihm entdecken: »Ob er wohl im Mondschein einen Schatten wirft?« Auf jeden Fall war dieses Luftwesen in allem das Gegenteil von Stefan George. Während Hofmannsthal offenbar stets für jünger gehalten wurde, als er war, wirkte George niemals jung. Das lag an seiner Physiognomie. Die breite, weit vorspringende Stirn über verschatteten Augenhöhlen, die hohlen Wangen, der herbe, schmallippige Mund, zuletzt der eigenartig wächserne Teint, der mitunter fast olivfarben schillerte: Selbst im Wiener Caféhaus musste ein solcher Kopf auffallen. Wie ein gewaltiger Block saß dieser Kopf dicht über den Schultern, was der eher feingliedrigen Gestalt etwas Keilförmiges verlieh. Beim Gehen war »der Oberkörper leicht zurückgelegt«, und da alle Bewegung aus dem Becken kam, sah es aus, als schiebe er sich gravitätisch nach vorn. George war unter 1,75 Meter groß. Da er aufrecht ging, den Kopf meist in den Nacken warf und den kurzen Hals durch einen hohen Stehkragen mit weißer Schleife optisch verlängerte, wirkte er jedoch größer. Der Maler und Zeichner Karl Bauer, der George 1891 kennenlernte und dessen in bürgerlichen Kreisen weit verbreitete Lithographien um die Jahrhundertwende das öffentliche Bild Georges nachhaltig prägten, schilderte sein Auftreten so: Der übrige Anzug war fast immer schwarz von modischem Schnitt. Man hätte ihn für einen Herrn der Gesandtschaft halten können. Die dunkelblonden zurückfliegenden Haare trug er ziemlich kurz und regelmäßig, so dass der kugelrunde Schädel im Profil klar hervortrat. Der spätere auf meinen Bildnissen so oft hervortretende Hinterkopf entstand durch die längere Haartracht … Sehr auffallend fand ich den medusenhaften seltsamen Blick der tief unter den felsigen eckigen Stirnknochen liegenden graugrünen Augen … Alles das gab und gibt noch heute dem Antlitz etwas Sphinxhaft- Dämonisches … Dem Eindruck des Gefaßten und Stolzen beim ersten Zusammentreffen steht bei näherer Bekanntschaft Lebhaftigkeit der Rede, ja Leidenschaftlichkeit und zarte Reizbarkeit im besten Sinne, die sich gern in Ironie flüchtet, gegenüber. George sah immer ein wenig übernächtigt aus, schon als junger Mann wirkte er verhärmt und leidend. Wer ihm gegenübertrat, musste den Eindruck gewinnen, dass dieser Mann es schwer hatte mit sich und der Welt. Das stete Leiden an der Gegenwart war für George aber auch Ausweis seines Erwähltseins. Mit jeder Geste, mit allem, was er sagte, unterstrich er seinen Anspruch, stellvertretend, im Namen einer höheren Macht zu handeln. So überspielte er nicht nur Unsicherheiten im täglichen Umgang mit seinen Mitmenschen, sondern verwies auch alle, mit denen er in engeren Kontakt trat, auf ein übergeordnetes Bündnis, das er vorerst als »das Dichterische« umschrieb. Im ersten Heft der Blätter für die Kunst hieß es im Oktober 1892 programmatisch, die Zeitschrift wende sich an »zerstreute noch unbekannte ähnlichgesinnte« Künstler, an solche also, die, wie George selbst, auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten waren, ohne schon sagen zu können, in welche Richtung ihre Bemühungen zielten. In der Kunst, so das Credo der neuen Gruppe, »glauben wir an eine glänzende wiedergeburt«. Um welche Art Kunst es sich dabei handelte, blieb zunächst unklar. Eine geistige Kunst sollte es sein, »eine kunst für die kunst«.17 Wichtiger als die Ausgestaltung eines Programms war der Sammlungsruf als solcher. Alle, die sich im Zeichen der neuen Kunst erkannten, durften sich berufen fühlen. Die Vison einer anderen Kunst muss George mit enormer Eindringlichkeit vermittelt haben. Er erzählte Hofmannsthal von den Dienstagabenden bei Mallarmé, von verwandten Bewegungen in Aussehen und Auftreten England und Italien und wies mit Nachdruck auf die Notwendigkeit hin, der neuen Kunst auch im deutschen Sprachraum zur Herrschaft zu verhelfen. Selbst über offensichtliche Nebensächlichkeiten wie Druck und Papier »sprach er mit einem imponierenden Ernst« und zog den jungen Hofmannsthal auf diese Weise in eine ihm neue Welt.18 Er habe, schrieb Hofmannsthal Jahrzehnte später, diese Welt als ungeheuer lebendig empfunden und sich sofort zugehörig gefühlt. Mit einem Mal sei er sich nicht länger wie ein »ganz vereinzelter Sonderling « vorgekommen. Im Zusammensein mit George habe er »jenes Communizieren webender Kräfte« erfahren, »das eben den Geist einer Zeit ausmacht«. Du hast mich an Dinge gemahnet Die heimlich in mir sind, Du warst für die Saiten der Seele Der nächtige, flüsternde Wind Das Gedicht, »Einem, der vorübergeht«, entstand unter dem unmittelbaren Eindruck der ersten Begegnung zwischen dem 16. und 19. Dezember. Hofmannsthal überreichte es am Montag der darauffolgenden Woche in einem Umschlag mit der Aufschrift »Herrn Stefan George«. Am nächsten Tag bedankte sich George: »Ihr schönes bekenntnis hat mich tief entzückt - nur wer bewundern kann vermag wunderbares zu schaffen.« Er fragte jedoch sofort nach dem ihn irritierenden Titel: »aber bleibe ich für Sie nichts mehr als -einer der vorübergeht-?« Als George drei Wochen später einen großen Bekenntnisbrief an den »zwillingsbruder« schrieb, milderte er, nachdem er sich für sein Gefühl allzu weit vorgewagt hatte, am Ende vieles ab  »Werden wir wieder vernünftig«  und unterschrieb, als hätte er sich zu guter Letzt doch mit dieser Rolle abgefunden: »Einer der vorübergeht«. Es klang ein wenig beleidigt. Und in der Tat: George war ja nicht nach Wien gekommen, um mit Geschichten aus dem Mallarmé-Kreis diesen oder jenen jungen Dichter zu unterhalten und dann wieder seiner Wege zu ziehen. Er suchte Gefährten, und das hieß für ihn: Menschen, für die der Glaube an die reine Kunst einherging mit dem Glauben an ihn, Stefan George. Die Überzeugung, dass durch ihn die neue Dichtung repräsentiert werde, gab seinem Auftreten die nötige Sicherheit. Der Weg zur neuen Kunst  so vermittelte er es  führte ausschließlich über ihn. Dem Gegenüber blieb da wenig Raum. Hofmannsthal machte als Erster die Erfahrung, dass aus der gemeinsamen Begeisterung für die Sache unversehens ein Zwang zu persönlichem Bekenntnis erwuchs. Schon wenige Tage nach ihrer Bekanntschaft bekam er es mit der Angst zu tun. Spätestens an Heiligabend. An diesem Tag hatte er George in seiner »provisorischen wohnung« hinter der Universität besucht. Der schämte sich offenbar ein bisschen für die Bleibe, denn er wollte den neuen Freund nur ungern dort empfangen - »trotzdem! Besser dort als nirgends«. Nach einem letzten vergeblichen Versuch am 23., den Besuch doch noch in ein Café umzudirigieren, kam es dann am Weihnachtsabend gegen 17 Uhr zu jener Begegnung, der wir eines der unheimlichsten Gedichte verdanken, die ein Dichter auf einen anderen verfasst hat: »Der Prophet« In einer Halle hat er mich empfangen Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt Von süßen Düften widerlich durchwallt. Da hängen fremde Vögel, bunte Schlangen. Das Thor fällt zu, des Lebens Laut verhallt Der Seele Athmen hemmt ein dumpfes Bangen Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen Und alles flüchtet, hilflos, ohne Halt. Er aber ist nicht wie er immer war, Sein Auge bannt und fremd ist Stirn und Haar. Von seinen Worten, den unscheinbar leisen Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen Er macht die leere Luft beengend kreisen Und er kann tödten, ohne zu berühren. Das war der andere George. Der Magier und Menschenfänger, dem Hofmannsthal jetzt aus dem Weg ging, indem er zwei Tage später aus Angst vor weiteren Unannehmlichkeiten eine Abreise aus Wien vortäuschte. George, der spürte, dass Hofmannsthal sich ihm entzog, wollte allen Ausflüchten vorbauen und schrieb noch am gleichen Tag: »An meine abreise ist vorläufig nicht zu denken und wann kommen Sie?« In seiner Erregung vergaß er das Wort »zurück«. Zehn Tage, nachdem sie sich kennengelernt hatten, war das Verhältnis zwischen Stefan George und Hugo von Hofmannsthal von gegenseitigem Misstrauen überschattet. George verbrachte die letzten Tage des Jahres allein in Wien und fieberte der angeblichen Rückkehr Hofmannsthals entgegen. Er brannte so sehr auf das Wiedersehen, dass er am ersten Werktag des neuen Jahres in der Hofmannsthalschen Wohnung klingelte, um zu erfahren, wo der junge Herr steckte. Mittwoch, den 6. Januar, fing er ihn dann an der Schule ab - und die Tragödie nahm ihren Lauf. »Inzwischen wachsende Angst; das Bedürfnis den Abwesenden zu schmähen«, notierte Hofmannsthal in seinem Tagebuch. Die Aufzeichnung trug die Überschrift »Der Prophet. (eine Episode) Jänner 1892«. In wenigen Stichworten hielt Hofmannsthal die aus seiner Sicht wesentlichen Stationen der Bekanntschaft fest. Indem er George als Propheten charakterisierte, die ganze Angelegenheit jedoch zur »Episode« erklärte, glaubte er seine Faszination durch den Fremden und sein gleichzeitiges Bedürfnis, ihn loszuwerden, auf einen Nenner zu bringen. Der Prophet als Episode war in sich so widersprüchlich wie das Verhältnis selbst. Für Sonntag, den 10. Januar, hatte Hofmannsthal endlich einer Verabredung gegen 17 Uhr im Café Griensteidl zugestimmt. Da er jedoch Felix Salten mitbrachte, einen befreundeten jungen Schriftsteller aus dem Kreis um Hermann Bahr, in dessen Begleitung er sich sicherer fühlte, konnte George nicht frei reden. Aus diesem Grund entschloss er sich wohl, Hofmannsthal den Brief zu übergeben, den er ihm am Vortag angekündigt, dann aber zurückgehalten hatte. Salten war von Hofmannsthal instruiert worden, beizeiten zum Aufbruch zu drängen. Der Zufall wollte es, dass sich George und Hofmannsthal am Abend ein weiteres Mal begegneten. »War es meine schuld dass Sie gerade in jenes unglückl. Cafe kamen am Sonntag?«, fragte George. Beide müssen sich in dem Moment, da Hofmannsthal das Café betrat, gleichsam ertappt gefühlt haben: Hofmannsthal, weil er sich mit Saltens Hilfe ein Alibi für den Abend verschafft hatte, das nun aufgeflogen war, George, weil er annehmen musste, dass Hofmannsthal inzwischen den Brief gelesen hatte. Die Begegnung war für beide peinlich, die Stimmung gereizt. Hofmannsthal erinnerte sich später, George habe einen schönen Hund, der an ihren Tisch kam und sich zutraulich an Georges Bein rieb, mit einem brutalen Tritt verjagt: »Va-t-en, sale voyou!« Über den Brief schwieg man sich offenbar aus. George hatte den Brief den ganzen Samstag mit sich herumgetragen. Als er gegen Mittag bei Hofmannsthal vorbeiging, um einige Bücher abzugeben - seinen ersten Gedichtband Hymnen in einem frischen Exemplar, die zu Weihnachten vom Drucker aus Lüttich eingetroffenen Pilgerfahrten und andere Schriften -, erwähnte er ihn sogar auf der Karte, die er beilegte: »Einen brief den das wesen x in mir abfertigte unterschlug das wesen y, denn wozu?« Am nächsten Tag im Café überreichte er ihn dann doch, nicht ohne sich zuvor vom Adressaten die Zusicherung auf Rückgabe oder Vernichtung ausbedungen zu haben. Als George vier Wochen später Hofmannsthals Vater zur Herausgabe des Schriftstücks drängte, meinte er, gewisse Worte, »recht und bezeichnend für eine stunde«, seien »am andren tag schon zu viel und unrichtig«. Der Brief war aus der Stimmung gemeinsamer Spaziergänge geschrieben worden. George hatte Hofmannsthal in diesen Tagen zweioder dreimal am Mittag im Akademischen Gymnasium abgeholt und ihn auf dem Nachhauseweg begleitet (Hofmannsthal stand ein halbes Jahr vor der Matura). George nannte diese Spaziergänge ihre »akademischen gespräche«, aber das, was sie dabei erörterten, der Geist dieser Gespräche war, jedenfalls für ihn, keineswegs »akademisch«. Seinen Bekenntnisbrief rechtfertigte George denn auch damit, dass das, was er Hofmannsthal eigentlich zu sagen habe, andernfalls auf immer ungesagt bliebe, »wenn wir auch noch ein dutzend mal unsre akademischen gespräche führen«. Hatte George seine Gefühle für Hofmannsthal tatsächlich so wenig unter Kontrolle, dass er »durch einen Dienstmann mit roter Kappe dem jungen Octavaner ein großes Rosenbouquet ins Schulzimmer schickte, zur lebhaften Belustigung seiner Mitschüler«? Leopold Andrian, der diese Anekdote überlieferte, befreundete sich im Herbst 1893 mit Hofmannsthal und lernte ein halbes Jahr später auch George kennen. Als er 1948 gebeten wurde, persönliche Erinnerungen an Hofmannsthal aufzuschreiben, notierte er sich im Vorfeld: »Die Freundschaft u. Brouille mit George - Bewunderung für den Dichter u. Antipathie gegen den Menschen u. Homosexuellen, das Bouquet durch den Dienstmann -. Wenn man den vor eine Schwadron stellt, fängt die ganze Schwadron zum Brüllen an.« Wer auch immer die Geschichte mit dem Rosenbouquet in Umlauf brachte, sie dürfte die Wiener Jungliteraten amüsiert und zur Erheiterung über den kauzigen Deutschen beigetragen haben. Hofmannsthal hasste nichts so sehr wie die Lächerlichkeit. »Die Scheu vor der Lächerlichkeit - die Scheu sich zu unterscheiden«, notierte Andrian, schien fast ein Grundzug seines Wesens zu sein. Die Angst, ins Gerede zu kommen, war offenbar noch stärker als der physische »Widerwillen« gegen die Person Georges, den Andrian aus späteren Bemerkungen Hofmannsthals meinte heraushören zu können. 27 Hofmannsthals Bemerkung gegenüber Bahr, er sei durch die ganze Angelegenheit »weniger beunruhigt als peinlich berührt«, lässt jedenfalls das Spektrum seiner Aversionen ahnen. Je unverhohlener George sich bemühte, Hofmannsthal aus der charmanten Unverbindlichkeit der Wiener Caféhausszene herauszulösen, weil er ihn - literarisch und menschlich - für sich allein beanspruchte, desto mehr zog sich der Umworbene zurück. Es war ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, der Jungstar des literarischen Wien lasse sich im Handstreich erobern. Der Brief, den George am 10. Januar im Griensteidl übergab, endete: »Sie sind der einzige der von mir solche bekenntnisse vernahm. Darin bau ich blind auf Sie.« Zum ersten Mal in seinem Leben offenbarte sich George einem anderen, Jüngeren, in schriftlicher Form. Er breitete vor ihm seine künstlerischen Überzeugungen aus, die sich in vielem mit denen Hofmannsthals deckten, sprach aber auch von seinen Selbstzweifeln, seiner Einsamkeit - jeder wahre Künstler lerne früher oder später diese »grosse Trübnis« kennen. Indem der dem Adressaten zu verstehen gab, dass sein weiteres Schaffen gefährdet sei und sein Leben sinnlos zu werden drohe, falls er von ihm nicht erhört werde, suchte er sanften Druck auf ihn auszuüben. Man ahnt, wie schwer es George gefallen sein muss, seine Leidenschaft in einigermaßen verständliche Worte zu fassen: Schon lange im leben sehnte ich mich nach jenem wesen von einer verachtenden durchdringenden und überfeinen verstandeskraft die alles verzeiht begreift würdigt und die mit mir über die dinge und die erscheinungen hinflöge, und sonderbar dies wesen sollte trotzdem etwas von einem nebelüberzug haben … Jenes wesen hätte mir neue triebe und hoffnungen gegeben … und mich im weg aufgehalten der schnurgrad zum nichts führt. O den satz den ich gestern schrieb - nein ich nenne ihn nicht denn für den andern ist daran zu viel papier tinte federn während er für mich siedendes quellendes-stoffloses blut bedeutet … Und endlich! Wie? Ja? Ein hoffen - ein ahnen - ein zucken - ein schwanken - o mein zwillingsbruder Hofmannsthal war verwirrter, als seine Antwort vom gleichen Abend vermuten ließ. George nannte sie »diplomatisch«. Hofmannsthal verwahrte sich darin gegen jeden Ausschließlichkeitsanspruch - »mein Wesen giesst den Wein seines jungen Lebens aus … wer nehmen kann, nimmt« -, gab sich zuversichtlich, dass George auch allein aus seiner gegenwärtigen Krise herausfinden werde, und offenbarte im letzten Satz des Briefes die ganze Ambivalenz seines Verhältnisses zu dem Älteren: »Ich kann auch das lieben, was mich ängstet.« Eindeutiger bekannte sich Hofmannsthal am nächsten Tag. In einem unmittelbar durch Georges Gedicht »Der Infant« angeregten »Prolog«, der später dem Tod des Tizian vorangestellt wurde, tritt ein Page die Schlosstreppe herunter und bleibt vor dem Bild des Infanten stehen, der ihm, »jung und blass und frühverstorben«, ähnlich sein soll: Georges Bekenntnisbrief 21 So träum ich dann, ich wäre der Infant … Und aus dem Erker tritt mein Freund, der Dichter. Und küsst mich seltsam lächelnd auf die Stirn Und sagt, und beinah ernst ist seine Stimme: »Schauspieler deiner selbstgeschaffnen Träume, Ich weiss, mein Freund, dass sie dich Lügner nennen Und dich verachten, die dich nicht verstehen, Ich aber liebe dich, o mein Zwillingsbruder.« Als Hofmannsthal den »Prolog« noch am gleichen Abend in Reinschrift übertrug, änderte er die letzte Zeile in: »Doch ich versteh dich, o mein Zwillingsbruder.« Der »Prolog« wie auch der am nächsten Tag in Angriff genommene Tod des Tizian selbst boten später Anlass zu vielfältigen Spekulationen, wen Hofmannsthal hier in welcher Maske auftreten ließ. Mit Sicherheit war seine Adaption von Georges »Infant « über alle dichterischen Spiegelungen hinweg eine Antwort auf dessen Liebesbekenntnis vom Vortag. In der Realität gestaltete sich alles ein wenig schwieriger, denn George ließ nicht locker. »Wie lange noch das versteckspiel?«, fragte er am Dienstag und machte den Vorschlag, sich »auf neutralem gebiet« zu treffen, zum Beispiel auf der Straße, »Kärnthnerring (Stadtseite)«. Hofmannsthals Angst, George auch nur zufällig über den Weg zu laufen, ging unterdessen so weit, dass er es sogar vermied, sich mit Freunden im Café zu verabreden, denn dort gehe »der Symbolist« um. Georges Brief vom Dienstag ist der verzweifelte Ruf eines Werbenden, der mit Gewalt eine letzte Chance erzwingen will: Er brauche nur kurze Zeit, sich zu erklären, und wolle die Mühe, die er Hofmannsthal dadurch bereite, »so gering wie möglich« halten, alles solle ganz »nach Ihrem belieben« arrangiert werden. Hofmannsthal verlor die Nerven. Wenn sich dieser merkwürdig hartnäckige Verehrer durch Höflichkeiten nicht auf Distanz halten ließ, sondern im Gegenteil, jedes Sowohl-als-auch sofort als feiges Ausweichen interpretierte, dann mussten deutlichere Worte gefunden werden. Der Antwortbrief Hofmannsthals wurde vernichtet, wohl von George selbst, noch vor seiner Abreise aus Wien

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