Büchergilde Leseprobe

Stark wie der Tod

Guy de Maupassant; Jim Avignon (Illustrator); Hermann Lindner (Nachwort)

Papierformat: 14,2x20,5, Leinen, bedruckt, Fadenheft, 296 Seiten.
Aus dem Französischen von Caroline Vollmann.
NR 166402

(…) eines Abends, nach einer ausgedehnten Plauderei über die Geliebten berühmter Maler, passierte es: sie ließ sich in seine Arme gleiten. Und diesmal blieb sie dort und versuchte nicht zu fliehen und erwiderte seine Küsse.

Von nun an hatte sie keine Gewissensbisse mehr, nur noch das schwache Gefühl eines Verlusts, und den Vorwürfen ihres Verstands begegnete sie mit dem Glauben an eine Schicksalsfügung. Ihr Herz, das die Liebe nicht gekannt hatte, und ihre Seele, die sich langweilte, fühlten sich zu ihm hingezogen, und ihr Körper wurde durch die sanfte Macht der Liebkosungen besiegt; so wurde sie allmählich immer anhänglicher, wie zärtliche Frauen, die zum ersten Mal lieben.

Für ihn war es der Höhepunkt sinnlicher und poetischer Liebe. Manchmal war es ihm, als sei er eines Tages mit ausgestreckten Händen losgeflogen und es sei ihm gelungen, mit seinen beiden Armen den geflügelten, herrlichen Traum einzufangen, der beständig unsere Sehnsüchte umkreist.

Er hatte das Porträt der Gräfin vollendet, und es war sicher das beste, das er je gemalt hatte, denn es war ihm gelungen, jenes gewisse Etwas, das sich nicht ausdrücken läßt und das ein Maler fast nie entschleiert, diesen Widerschein, dieses Geheimnis, dieses Antlitz der Seele, das sich unfaßbar in den Gesichtern spiegelt, zu erkennen und einzufangen.

Dann gingen Monate dahin und dann Jahre, die das Band, das die Gräfin de Guilleroy und den Maler Olivier Bertin vereinte, kaum lockerte. Bei ihm hatte sich die schwärmerische Liebe der ersten Zeit in eine ruhige, tiefe Zuneigung verwandelt, eine Art verliebter Freundschaft, an die er sich gewöhnt hatte.

Bei ihr hingegen wuchs die leidenschaftliche Anhänglichkeit unablässig, diese beharrliche Anhänglichkeit gewisser Frauen, die sich einem Mann ganz und gar und für immer schenken. Sie weihen sich einer einzigen Liebe, von der sie nichts abbringen kann, und sind im Ehebruch so ehrenhaft und anständig, wie sie es in der Ehe gewesen wären. Sie lieben ihren Liebhaber nicht nur, sie wollen ihn auch lieben, und da sie nur Augen für ihn haben, ist ihr Herz so sehr mit dem Gedanken an ihn beschäftigt, daß dort nichts anderes mehr Zutritt hat. Sie haben ihr Leben vorsätzlich in Fesseln gelegt, so wie man sich, wenn man schwimmen kann, die Hände fesselt, ehe man von einer hohen Brücke ins Wasser springt, um zu sterben.

Aber sobald sie sich ihm in dieser Weise geweiht hatte, befielen sie Zweifel an der Beständigkeit Olivier Bertins. Nur das männliche Begehren, seine Laune und seine vorübergehende Neigung zu einer Frau, der er zufällig begegnet war wie schon so vielen andern zuvor, hielten ihn bei ihr! Sie fürchtete, er sei so frei und leicht verführbar wie alle Männer, die ohne Pflichten, ohne feste Gewohnheiten und ohne Skrupel lebten! Er sah gut aus, war berühmt und beliebt, und seinem rasch aufflammenden Verlangen standen alle Damen der Gesellschaft, deren Tugend so angreifbar ist, zur Verfügung, ebenso wie Ieicht zu habende Frauen und Schauspielerinnen, die ihre Gunst nur zu gerne an Männer wie ihn verschenkten. Eine von ihnen konnte ihn eines Tages nach einer Abendgesellschaft begleiten, konnte ihm gefallen, ihn erobern und behalten.

In der ständigen Furcht, ihn zu verlieren, belauerte sie sein Verhalten und sein Benehmen, durch die kleinste Bemerkung wurde sie in Unruhe versetzt, Angst erfüllte sie, sobald er eine andere Frau bewunderte und den Charme eines Gesichts oder die Anmut einer Bewegung rühmte. All das, was sie von seinem Leben nicht wußte, versetzte sie in Angst, und all das, was sie wußte, in Schrecken. Jedesmal wenn sie sich sahen, ersann sie einfallsreich irgendwelche Fragen, um ihn, ohne daß er ihre Absicht bemerkte, zu veranlassen, seine Ansichten zu äußern über die Leute, die er getroffen, über die Häuser, in denen er gespeist, und über die kleinsten Eindrücke, die er empfangen hatte. Sobald sie auch nur von ferne einen fremden Einfluß witterte, bekämpfte sie ihn mit erstaunlicher Klugheit und unerschöpflichen Mitteln.

Oh, häufig ahnte sie diese kurzen Affären voraus, die meist acht oder vierzehnTage dauerten, ohne tiefere Wurzeln zu schlagen, und die es im Leben jedes bekannten Künstlers von Zeit zu Zeit gibt.

Noch ehe sie wußte, daß eine neue Leidenschaft in Olivier erwacht war, erkannte sie die herannahende Gefahr unbewußt am festlichen Glanz, den die Augen und das Gesicht des Mannes annehmen, den ein galantes Abenteuer reizt. Dann begann sie zu leiden. Jede Nacht wurde sie im Schlaf von quälendem Verdacht heimgesucht.

Tagsüber tauchte sie unerwartet bei ihm auf, um ihn zu ertappen, stellte ihm scheinbar naive Fragen, betastete sein Herz und horchte seine Gedanken ab, wie man einen menschlichen Körper betastet und abhorcht, um eine verborgene Krankheit aufzuspüren.

Und sobald sie alleine war, weinte sie, in der festen Überzeugung, diesmal werde er ihr genommen, diesmal werde man ihr diese Liebe rauben, an der sie mit all ihrem Wollen, all ihrer Liebesbereitschaft, all ihren Hoffnungen und Träumen hing.

Wenn sie bemerkte, daß er von diesen kurzen Seitensprüngen zu ihr zurückkehrte, und sie ihn wie einen verlorenen und wiedergefundenen Gegenstand zurückerhielt und zurückgewann, dann empfand sie ein tiefes, ruhiges Glück, und wenn sie an einer Kirche vorbeikam, konnte es geschehen, daß sie hineinstürzte, um Gott zu danken.

(...)

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