Von Anna Basener
Auf dem Buchmarkt bekommen die aufwändig gestalteten
oder politisch bedeutenden Titel selten eine Chance. Alles dreht sich um
günstig produzierte Taschenbücher, vorhersehbare Geschichten und alt bekannte
Fakten. Der Fluchtatlas bedient keine dieser Sehnsüchte. Er widmet sich in
aufwändiger Gestaltung einem aktuellen, gesellschaftlichen Problem, er klärt
auf und erschüttert seine Leser – und doch hat er seinen Weg gefunden.
„Lesen mit allen Sinnen“ lautet der Claim der Büchergilde.
Seit 92 Jahren macht sie „schöne Bücher“, jetzt hat sie den Fluchtatlas herausgebracht.
Und ausgerechnet dieses ebenfalls schöne, sogar ausgezeichnete Werk „soll gar kein
Schmuckstück sein.“ Das sagt Cosima Schneider, Herstellungsleiterin der
Büchergilde. Sie ist bei der Leipziger Buchmesse 2016 auf Laura Markert, Yvonne
Moser und Lilli Scheuerlein und deren Buchprojekt gestoßen. Die drei Studentinnen
begeisterten Schneider mit ihrem Atlas beim "Mappenspeeddating" der Stiftung
Buchkunst auf Anhieb.
Gehen wir ein paar Jahre zurück. 2014 fängt alles an, als Laura Markert, Yvonne
Moser und Lilli Scheuerlein sich im Seminar Visual Translation zusammentun, um
im Laufe eines Semesters an der Hochschule für angewandte Wissenschaft Würzburg-Schweinfurt
ein Projekt zu erarbeiten. Sie müssen, so die Vorgabe, ein gesellschaftlich
relevantes Thema visuell übersetzen. Schnell ist klar, welches Thema sie sich
vornehmen wollen. Noch vor dem Medienrummel und den großen Debatten um Flucht,
Vertreibung und Merkels Migrationspolitik hatte Markert ein Mädchen aus Somalia
kennengelernt. Deren Fluchtgeschichte hatte die junge Studentin so schockiert, dass
der Komplex Flucht nun unweigerlich zum Gegenstand des Projektes wird.
Als Medium wählten die drei Designstudentinnen einen Atlas, das Buchformat,
das seit jeher die Illusion erweckt, man könne die ganze Welt erfassen und in Form
von Landkarten sortieren – ein Buchformat, das sinnbildlich für Fernweh steht.
In ihrem Atlas aber geht es nicht darum, sich mit dem Finger auf der Landkarte
in exotisch ferne Länder zu träumen, sondern um Flucht. Kalte Fakten treffen auf
persönliche Schicksale und über allem schwebt die Gewissheit, dass dieses Buch
einen Punkt markiert, an dem die Welt höchstens durch Grenzzäune sortiert wird,
Fernweh irrelevant ist und lebenslanges Heimweh beginnt. Denn: Wer in die
Flucht getrieben wird und in der Ferne neu anfängt, hat zwar überlebt, aber
seine Heimat für immer verloren.
Die Autorinnen arbeiten sich tief in die Problematik ein, lesen Reportagen und Berichte
dazu. Einmal in der Woche gehen sie in ein Flüchtlingsheim und sprechen mit den
Bewohnern. Es dauert lange, bis sie Vertrauen aufgebaut haben und persönliche Schicksale
kennen. Es sind furchtbare Geschichten von Folter und Tod. Das Thema ist hart,
es nagt an den dreien. „Womit habe ich meinen Lebensstandard eigentlich
verdient?“, fragt sich Markert mehr als einmal, und ihr Professor rät, Distanz
zu wahren.
Markert, Moser und Scheuerlein arbeiten Statistiken auf und suchen nach Formen,
um die persönlichen Geschichten zu erzählen. Sie fotografieren Flüchtlinge und stehen
bei einigen Aufnahmen vor dem Problem, dass die Bilder zu stylisch sind, zu modisch.
Sie machen neue. Auch die Autorinnen wollen kein „Schmuckstück“ herstellen. Sie
produzieren stattdessen einen imposanten Atlas in A3, der sowohl den German Design
Award 2016 erhält als auch als Art Directors Club Germany Gold, Student des
Jahres 2015 ausgezeichnet wird. Es vergeht keine Woche ohne E-Mail von Kaufinteressenten.
Aber so einfach ist das bei einem Buch dieser Größe und mit dieser Ausstattung
nicht. Auch Cosima Schneider von der Büchergilde sieht 2016 in Leipzig
Probleme. So beeindruckt sie von dem Buch und dem Engagement der Studentinnen
ist, eigentlich arbeitet die Büchergilde nicht mit Fotos und sie verlegt auch
keine eigenen Sachbücher. Ganz zu schweigen von den Herstellungskosten eines solchen
Atlanten.
Aber der Fluchtatlas lässt Schneider nicht los. Sabine Reister geht es ebenso.
Die Designerin ist Papierberaterin beim Papierhersteller Geese und ebenfalls
Expertin beim Mappenspeeddating auf der Leipziger Buchmesse. Für sie ist der
Atlas „eine Wohltat in Zeiten überschneller Urteile und halber Wahrheiten“. Als
Schneider fragt, ob der Papierhersteller die Publikation des Fluchtatlas
vielleicht unterstützen würde, ist Reister sofort an Bord. Mit der
Verkleinerung des Formats auf 24 x 34 cm und
der Hilfe zweier weiterer Förderer wird die Veröffentlichung schließlich
Realität. Bamberger Kaliko spendet die Textilien und macht einen burgunderroten
Einband mit Prägung möglich. „Die Mischung aus politischer Tragweite und
gestalterischer Qualität haben überzeugt“, sagt Dietmar Dorn, Sales Manager bei
dem Textilproduzenten.
Die Druckerei Memminger MedienCentrum vervollständigt die Riege der Förderer. Walter
Kurz, Vertriebsleiter, kennt die Fakten und Statistiken inzwischen auswendig,
die die drei Autorinnen in ihrem Buch präsentieren, so großen Eindruck hat der
Fluchtatlas auf ihn gemacht. Bei der Lektüre des PDFs wusste er sofort: „Wenn
man da nichts macht, wann dann!“
Zu denken gibt ihm allerdings der Epilog des Buches, der die schwierige Situation
der Flüchtlinge nach der Ankunft in Deutschland beschreibt. Sie seien für unsere
Gesellschaft lediglich Aussätzige und bekämen keinerlei Respekt. Walter Kurz will
das nicht ausschließen oder kleinreden, hat aber privat schon so viel Nachbarschaftshilfe
erlebt, dass ihm in diesem Epilog der kleine Lichtblick fehlt, der ebenfalls existiert.
Der Brisanz des Buches tut das keinen Abbruch, weshalb Schneider eine niedrige Schwelle
wichtig ist. Sie will den Fluchtatlas nicht zu einem exklusiven Werk für die
aufgeklärte Elite, sondern für jeden erschwinglich machen. „Nur so ist
Aufklärung und die Schärfung eines kritischen Blicks möglich“, sagt sie. Auch
das ist Programm bei der Büchergilde. Denn, wenn wir mit „allen Sinnen“ lesen, wenn
wir unsere Themen und Inhalte in „schönen Büchern“ suchen, dann sollten wir dort
eben auch die Menschheitstragödie Flucht finden.
Anna Basener Berliner
Autorin und Journalistin. Sie schreibt für Audible, die Business Punk und publiziert
u.a. im Eichborn Verlag. www.annabasener.de