Ein russischer Roman aus Amerika

Der tragikomische Roman Pnin von Vladimir Nabokov erzählt von einem verschrobenen russischen Gelehrten, der im Exil in den USA lebt. Dort kämpft er mit der englischen Sprache und der Unberechenbarkeit des Alltags. Thomas M. Müller illustrierte den Klassiker für die Büchergilde in seinem unverkennbaren Stil als einzigartiges Farbenspiel.

 

Von Norma Schneider


© Thomas M. Müller

Als in Russland 1917 die Oktoberrevolution ausbrach, war Vladimir Nabokov achtzehn Jahre alt. Er stammte aus einer wohlhabenden Aristokratenfamilie, die sich gezwungen sah, das Land zu verlassen und ins Exil zu gehen. Als Nabokov Anfang der Fünfzigerjahre einen Roman über den Exilrussen Timofey Pnin, Dozent an einem Provinzcollege in Amerika, schrieb, hatte er selbst schon über zehn Jahre in den USA gelebt und an verschiedenen Universitäten gelehrt. Pnin ist der vierte Roman, den Nabokov auf Englisch verfasste. Das Buch zählt zwar zu seinen bekannteren, stand aber immer im Schatten des ebenfalls in den fünfziger Jahren erschienenen Romans LolitaPnin bietet weniger Anlass zu Skandalen, dafür brillant geschriebene Episoden aus dem Leben eines liebenswerten Helden.

Auf den ersten Blick kommt Pnin als amüsante, kurzweilige Erzählung über einen etwas tollpatschigen und weltfremden Professor daher, über den sich nicht nur seine Kollegen, sondern auch der Erzähler und die Leserinnen und Leser des Romans lustig machen. Und nicht nur die Hauptfigur Pnin sorgt für Erheiterung. Mit viel Witz karikiert Nabokov den Alltag der Universitätsdozenten als ewiges, ritualisiertes Vor-sichhin-Wursteln. Von Entwicklung oder gar Forschungsergebnissen keine Spur. Statt Wissen und Kompetenz geht es um persönliche Animositäten und die resolute Trägheit derjenigen, die es sich auf ihrem Lehrstuhl bequem eingerichtet haben. An Pnins College tummeln sich einige verschrobene Originale, die Nabokov treffend porträtiert.

Doch bei aller Leichtigkeit erzählt der Roman die tragische Geschichte eines Mannes, der seine Heimat verloren hat und in einem Land, dessen Kultur ihm fremd ist, unweigerlich zum Sonderling, wenn nicht gar zur Lachnummer wird. Wegen mangelhafter Englischkenntnisse und dem nicht gerade großen Interesse der amerikanischen Öffentlichkeit werden die russischen Exilanten beständig unterschätzt. Wie Pnin geht es vielen: Sie können ihre Potenziale nicht entfalten. Anstatt zu forschen und als Intellektuelle in der Öffentlichkeit zu stehen, fristen sie ein Schattendasein in verstaubten Linguistik-Instituten und geben Russisch-Anfängerkurse für eine Handvoll desinteressierter Studenten.

Das Leben im Exil ist eines der großen Themen des Romans, der verschiedene Typen von russischen Emigranten porträtiert. Da sind junge Dichter, die nostalgische Verse über ein fiktives, romantisiertes Russland schreiben, oder sowjetophile Reaktionäre, deren verzerrtes Russlandideal den Ruhm der Roten Armee mit der zaristischen Erhabenheit und der Heiligkeit der orthodoxen Kirche vermischt. Und es gibt diejenigen, die sich assimiliert haben und sowohl sprachlich als auch kulturell in der amerikanischen Gesellschaft angekommen sind. Ihre Kinder sprechen oft gar kein Russisch mehr. Pnin lehnt alle diese Formen des russischen Lebens in den USA ab. Romantische Vorstellungen von Russland hegt er keine. Er ist ein klarer Gegner der sowjetischen Herrschaft und hat es akzeptiert, in den USA zu leben. Assimiliert ist er allerdings ganz und gar nicht. Er kämpft mit der englischen Sprache, und seine reservierte, altmodische Art kollidiert nicht selten mit der amerikanischen Lockerheit.

© Thomas M. Müller

Diesen persönlichen Clash der Kulturen schildert der Erzähler liebevoll und mit einem Augenzwinkern. Es ist klar: Jemand wie Pnin passt nicht in eine amerikanische Kleinstadt. Aber das liegt nicht nur daran, dass er Russe ist. Pnin ist ein Einzelgänger: empfindlich gegen Geräusche, Zugluft und Geselligkeit. Er hegt eine Leidenschaft für Fahrpläne, und als er schließlich Autofahren lernt, tut er das unter Zuhilfenahme des Eintrags „Automobil“ in der Encyclopedia Americana. Mit technischen Geräten kann er nicht viel anfangen, und zu seinem eigenen Körper scheint der Hypochonder Pnin ebenfalls kein gutes Verhältnis zu haben, da er ihn als den „scheußliche(n) Automat(en), den er beherbergte“, bezeichnet. Pnin ist ein Gelehrter, ein Büchermensch und Denker. Sein Kopf funktioniert, darauf kommt es an.

Was die Liebe betrifft, hat Pnin kein Glück. Die Frau, die er bedingungslos liebt, hat ihn schon vor Jahren für einen anderen verlassen. Doch Pnin ist treu und genügsam und kümmert sich sogar um Victor, den Sohn seiner Exfrau und deren neuen Mannes. Wenn Victor zu Besuch kommt, bemüht Pnin sich sehr, dem Jugendlichen etwas Interessantes zu bieten. In der Annahme, dass sich alle Jungen für Sport interessieren, begrüßt Pnin ihn mit den Worten: „Ich werde jetzt mit dir sprechen über Sport“ – um anschließend einen kleinen Vortrag über Sport in der russischen Literatur zu halten. Typisch Pnin.

Nabokov selbst beschreibt Pnin in einem Brief an den Verlag als „reinen Menschen“ mit „großem moralischem Mut“, der „auf heitere Art weise“ sei und einen „zarten und liebenswerten Kern“ besitze. Alles andere als eine Witzfigur also. Pnins Aussehen wird im Roman kaum beschrieben, doch als Nabokov die Entwürfe für den Schutzumschlag der Erstausgabe sah, war er gar nicht zufrieden und schrieb wieder an den Verlag: „Der Entwurf sieht aus wie ein unterbezahlter Lektor der Anglistik …, während er tatsächlich wie ein kahlgeschorener russischer Mushik aussehen sollte …“ Darauf folgten sieben genaue Vorgaben zu Pnins äußerer Erscheinung. Der Illustrator Thomas M. Müller griff diese in seinen Illustrationen in abstrakten, kontrastreichen Bildern auf: den kahlen runden Kopf, die hervorstehende Nase, die breiten Schultern und die große Brille, die Pnin auch zum Schwimmen nicht abnimmt. Müllers Pnin ist kein zerstreuter Professor, sondern ein Mann, der zwar manchmal etwas fehl am Platze wirkt, den aber so schnell nichts aus der Ruhe bringt. Und wenn doch, verzieht er keine Miene, während Tränen und Schweiß sich in großen Tropfen und Bächen um ihn herum sammeln. Damit verbindet er in seinen Illustrationen die innere Empfindsamkeit und stolze Zurückhaltung des Protagonisten.

Wichtiger als Pnins Aussehen ist für den Roman seine Art zu sprechen. „War sein Russisch Musik, so war sein Englisch Mord“, urteilt der Erzähler. Pnins Ringen mit dem Englischen ist eines der amüsantesten und charakteristischsten Elemente des Romans. Pnins Grammatikfehler, seine schiefen Sätze und sogar seine falsche Aussprache werden genau wiedergegeben. Teilweise erklärt der Erzähler sie sogar, und die Leserinnen und Leser können einiges über Eigenheiten des Russischen erfahren. Ab und zu werden auch russische Wörter in die Sätze eingeflochten, und natürlich flucht Pnin auf Russisch („Chuligany“ zum Beispiel), auch wenn er sich nur selten dazu hinreißen lässt. Nabokov zeigt hier großes Feingefühl für das „russische Englisch“, was Dieter E. Zimmer in der deutschen Übersetzung elegant umgewandelt hat in die Ausdrucksweise russischer Muttersprachler, die Deutsch lernen.

Pnin zählt zur amerikanischen Literatur und wurde auf Englisch verfasst. Dennoch ist Pnin ein sehr russischer Roman. Er zelebriert ausführlich die russische Sprache und Kultur und spielt mit den Klischees der russischen Literatur. Nicht nur werden Entfernungen in Werst und Arschin angegeben, es wird auch Tee mit Marmelade getrunken, Puschkin zitiert, und natürlich werden Pilze gesammelt. Pnin seufzt sogar „ein russisches ‚Och-ochoch‘“. All diese, oft sehr erheiternden, Kontraste zum amerikanischen Collegeleben mit seiner Small-Talk-Geselligkeit zeigen, was Pnin besonders interessant und lesenswert macht: die Verbindung von zwei Sprachen und Kulturen, die in ihren Besonderheiten und Widersprüchen im Text lebendig werden. Während Timofey Pnin nie ganz angekommen zu sein scheint, zeigt Nabokov, dass er sich in beiden Sprachen und Kulturen nicht nur souverän bewegen, sondern sie auch zum Stoff einer brillanten Geschichte machen konnte. Eine Geschichte, in der Nabokov das Tragische mit dem Komischen und Grotesken verbindet und das Existenzielle des Alltäglichen, scheinbar Belanglosen zeigt. So wie in den besten russischen Romanen.

 

Norma Schneider ist freie Lektorin und Journalistin und beschäftigt sich besonders mit Literatur aus Russland und Osteuropa.