NEUES AUS DER BÜCHERGILDE

 

 

Der herabschauende Mann

 

Ceci nʼest pas du yoga! Der Bestsellerautor und Meister der Autofiktion Emmanuel Carrère verfasst mit Yoga eine episodenhafte Bestandaufnahme persönlicher Schicksalsschläge: der Charlie-Hebdo-Anschlag, Krankheit, Verluste.

In gekonnt feiner Erzählweise seziert er seinen Seelenzustand, Kunst, Weltgeschehen. Und, ja, um Yoga geht es auch ...

"Alles, was man ernsthaft und mit Liebe verfolgt, von Kung-Fu bis zur Wartung von Motorrollern, kann man Yoga nennen."

Emmanuel Carrère, Yoga

 

Dass dieses Buch trotz seines Titels Yoga weder eine Anleitung zu Leibesübungen noch die esoterische Philosophie eines Quasi-Erleuchteten darstellt, sondern vielmehr fest in der Realität verankert ist, macht der französische Autor Emmanuel Carrère direkt klar: „[Yoga] ist eine Technik, keine Religion. Sie arbeitet nicht mit Vorstellungen oder Glaubensinhalten, sondern mit der Atmung, und die Atmung ist etwas Wirkliches.“ Seinem neuesten Werk lag zwar durchaus der Plan zugrunde, ein kleines, feines Büchlein über diese Lehre verfassen zu wollen. Als Carrère jedoch das Leben in all seiner Wucht dazwischenkam, wurde Yoga zu weitaus mehr.

 

Zu Recherchezwecken nimmt Emmanuel Carrère an einem Vipassana-Seminar teil, einem Yoga-Camp für Menschen, die sich über mehrere Tage einer strengen Prozedur des Schweigens und der Meditation widmen. Carrère begibt sich in eine doppelte Rolle: Als praktizierender und kundiger Liebhaber von Tai Chi, Meditation und Yoga findet er Gefallen an den Übungen. Gleichzeitig studiert er für sein neues Schreibprojekt insgeheim das sonderbare Konglomerat an TeilnehmerInnen. Gefällig und liebevoll-spöttisch eröffnet er sein Buch mit seinen Gedanken über die Entschleunigung des modernen Lebens, die Philosophie des Yoga sowie die Absurdität der Meditationsgemeinschaft.

Dann bricht die Realität in die abgeschiedene Klausur ein: der Anschlag auf die Redaktion der Zeitschrift Charlie Hebdo, bei der auch ein guter Freund Carrères stirbt. Wie ein Keil fährt die Nachricht ins Leben des Autors. Eine Krise, die in Kombination mit einer schmerzhaften Trennung zu schwer wiegt – Diagnose Depression und bipolare Störung. Es folgen Zusammenbruch, Psychiatrie, Medikamente, sogar Elektroschocks. Sein Selbst zerbricht und könnte von der im Yoga angestrebten Einheit von Körper und Geist nicht weiter entfernt sein.

 

Doch Atmen und Schreiben sind die Elemente, die ihn zusammenhalten. Quälend langsam schreitet seine Gesundung voran. Er spricht über das Auf und Ab seines Zustands, einen einfühlsamen Interviewpartner, der seinen verwahrlosten Zustand toleriert, von einer wohltuenden Liebesaffäre. Und schließlich über seine Erlebnisse in einer Sprachschule mit jungen Geflüchteten auf der griechischen Insel Leros, die einiges für ihn in Perspektive rücken.

 

Mit Yoga lässt man sich auf die Lektüre der Gedankenströme eines einnehmenden Intellektuellen ein, der brillant erzählen kann und gekonnt über sich selbst und die Welt reflektiert. Schmerzhaft offen lesen sich die Passagen über seine „Endstation“, den psychischen Zusammenbruch und dessen Nachwehen, berührend solche, wenn er über den Zauber von Musik und das Tastaturtippen schreibt.

In diesem sehr persönlichen Buch philosophiert Emmanuel Carrère sprachlich elegant über sein eigenes und das Leben an sich. Nun bezeichnet man solche Lebensberichte mitunter gerne als „Nabelschau“ – die ist es auch, im positiven Sinne. Die Art, wie er seine Seele offenbart, steht in wunderbarer Balance zum „großen Ganzen“. Das lässt sich auch herrlich doppeldeutig auf die Zwerchfell-Atemtechnik der Yogalehre übertragen: Tief in den Unterleib einatmen, den Bauch um den Nabel herum mit dem Atem weiten und ihn in die Welt hinausstrecken – um alles dann wieder tief in sich selbst zurückzuziehen.

Marlen Heislitz

(findet Gefallen am heraufschauenden Hund.)